Birdman

Shakespeare sagte einmal, die Welt sei eine große Bühne und wir wären alle Spieler. Demnach wäre doch alles nur ein Spiel, eine Szene, eine Inszenierung. Doch wenn das wahr ist: Wozu gibt es dann das Kino, das Theater und vor allem… Schau-Spieler?

Riggan Thomson dümpelt seit über zwanzig Jahren als gealterte Superhelden-Ikone vor sich hin, die nie aus dem Schatten ihrer legendären Birdman-Darstellung heraustreten konnte. Nun plant er ein furioses Comeback auf der Theaterbühne, wo er sein Können für ein anspruchsvolles Drama unter Beweis stellen will – wohlgemerkt als Regisseur und als Protagonist. Natürlich steht Thomson mit seinem Vorhaben unter immensem Druck, selbst am Set herrscht keine echte Zuversicht, dass das Stück Erfolg haben könne. Mit die meisten Zweifel bekommt Thomson von seiner eigenen Tochter zu spüren, die gerade frisch eine Entziehungskur für Heroinsüchtige hinter sich hat.

Des Weiteren wird kurz vor der ersten Vorpremiere einer der Schauspieler von einer Requisite K.O. geschlagen, weshalb der schwer zu handhabende Mike Shiner für ihn einspringen muss und allein aufgrund seiner narzistischen Eigenarten das ganze Unternehmen in Gefahr bringt. Das größte Problem für Thomson ist augenscheinlich er selbst: Ständig hört er die tiefe Stimme des Birdman, die ihn mit schonungsloser Wortgewalt aus seinen ambitionierten Träumen reißen will. Warum solle er sich auch als Pseudo-Künstler unter Beweis stellen, wenn er doch Millionen mit einem neuen Superhelden-Film verdienen könne?

Mehr Inhalt verrate ich besser nicht, wobei ich sowieso viel lieber über den Stil und die Inszenierung von Alejandro González Iñárritus Birdman schreiben möchte. Denn was der gebürtige Mexikaner hier auf die Beine gestellt hat, sucht seinesgleichen. Allein die Schnitttechnik ist unglaublich, weil der Film den Eindruck vermittelt, aus einem einzigen, ewig währenden Take zu bestehen. Sprich: Anstatt von Szene zu Szene zu springen, bewegt sich die Kamera nahtlos von Schauplatz zu Schauplatz, wobei der Großteil des Filmes in einem verwinkelten Theatergebäude spielt.

Was sich zunächst wie ein überambitioniertes Gimmick anhört, entpuppt sich als ein für die Geschichte unverzichtbares Stilmittel. Denn erst so spürt ihr die Hektik und die Enge, die Thomson und seine Crew während der Vorbereitungen plagen. Bevor jemand fragt: Nein, der Film wurde nicht wirklich in einem Take gedreht. Vielmehr hat Iñárritu mehrere “unsichtbare“ Schnitte eingefügt, die durch geschickte Überblendungen von Licht zu Schatten oder umgekehrt möglich sind. Der Film läuft trotz der furiosen Technik nicht einmal in Echtzeit, sondern nutzt beispielsweise einen kurzen Blick gen Himmel, um im Zeitraffer vom Tag zur Nacht zu wechseln.

Bereits im Vorfeld war der Filmkenner gleichermaßen überrascht wie amüsiert, dass niemand geringeres als Michael Keaton die Rolle des Riggan Thomson übernehmen würde. Schließlich hat Keaton ein ähnliches “Schicksal“ hinter sich wie sein Alter Ego: Er war vor über zwanzig Jahren der erste Batman in einem Kinofilm und konnte über die folgende Zeit nie an den kommerziellen Erfolg aufbauen. Auch Edward Norton, der den egozentrischen Mike Shiner mimt, oder Naomi Watts, die ein leicht verunsichertes Blondchen mit naiven Starruhmträumen spielt, deuten mit der einen oder anderen Szene auf ihre eigene Filmvergangenheit hin.

Gleichwohl sich all das wie ein Gag anhört, steckt dahinter in meinen Augen weitaus mehr: Birdman platzt voller Schichten und Meta-Ebenen, für die man sicherlich mehrere DVD-Sitzungen benötigt, um sie alle begreifen und fassen zu können. Dazu ein kleines Beispiel: Edward Nortons Charakter stellt mehrfach klar, dass er nur auf der Bühne er selbst sei. Im “wahren Leben“ wiederum könne er nur schauspielern. Der Witz dabei: Sein Charakter ist ja auch nichts anderes, als eine von einem Schauspieler gespielte Figur! Und der gesamte Film wimmelt nur so vor den unterschiedlichsten Andeutungen, dass die Vergangenheit und die Charakterzüge der “echten“ Darsteller in irgendeiner Form die Figuren im Film mitgeprägt haben – sei es in Form einer offensichtlichen Ähnlichkeit oder eines krassen Gegensatzes.

Ohne zu viel verraten zu wollen, steckt in Birdman eine fantastisch-magische Komponente, die sich voll und ganz auf Riggan Thomson konzentriert. Dabei werde ich als Zuschauer mehrfach auf eine falsche Fährte gelockt und zum Schluss mit einem genialen Ende vollends aus dem Häuschen gekickt. Ihr hättet mich mal in der letzten Einstellung beobachten soll: Ich saß mit den Fingernägeln eingekauert im Kinosessel und murmelte leise vor mich hin „Cut… cut… cut… cut!“ Nicht, weil ich es nicht weiter ertragen konnte, nein: Ich wollte, dass es jetzt hier und jetzt fertig ist, weil es perfekt wäre. Und es IST perfekt.

So viele Faktoren haben dazu beigetragen, Birdman zu dem kleinen Meisterwerk zu machen. Ganz voran steht Emmanuel Lubezki, der bereits mit seinen Arbeiten in Gravity, Tree of Life oder Children of Men bewiesen hat, dass er DER Kameramann seiner Generation ist. Seine kontinuierlichen Bewegungen und Überleitungen, die er sich zusammen mit Innaritu ausgedacht hat, sind ausschlaggebend für die grandiose Theater-Atmosphäre. Antonio Sánchez Drum-lastiger Score, der leider aufgrund der Implementation vereinzelter klassischen Themen für die Oscar-Verleihung disqualifiziert wurde, ist elektrisierend wie treibend. Ausstattung, Kostüme, Ton und visuelle Effekte sind dezenter, aber ebenfalls erstklassig integriert.

Dann wären da die Schauspieler: Selten hab ich einen so sympathischen Drecksack wie Edward Norton als Mike Shiner gesehen, noch nie zuvor sprang mir Emma Stones Talent als Thomsons heroinsüchtige Tochter derart offensichtlich entgegen – und dann ist da natürlich noch Michael Keaton selbst, der hier die Rolle seines Lebens hinlegt.

Aber am Ende ist es ein ganz anderer Punkt, der neben der Kamera über allem steht: das Drehbuch. Es ist abartig, wie viel da drin steckt, ohne das der Zuschauer mit zu vielen Wirrungen und Irrungen überfordert wird. Es wirkt herrlich organisch und logisch, wie es nur die seltensten Autoren zustande kriegen. Es ist die perfekte Vorlage für Keaton, dem jeder ein Comeback gegönnt hat und der nun in einer pixelperfekten Glanzleistung nach dem Oscar greift. Ich glaube zwar nicht, dass er ihn kriegen wird (sorry, aber Redmayne ist einfach zu stark) – aber hiernach wird ihn keiner mehr als den ehemaligen Batman-Darsteller bezeichnen, der nichts anständiges mehr auf die Reihe bekommen hat.

Ganz im Gegenteil: Für mich ist er ab sofort Birdman. Ich würde ihn jedenfalls auf der Straße anfeuern, wenn ich ihn sehe. Allein, um den Film und seine ganzen Meta-Ebenen noch weiter auf die Spitze zu treiben.

P.S.: Wer den Film bereits gesehen hat, dem rate ich dringend die Sichtung dieses IMDB-Threads. Der Verfasser stellt jedenfalls eine brillante Theorie auf, die nahezu alle Nuancen und Fragezeichen auf einen Nenner bringt.


Oscar-Nominierungen: Bester Film, Beste Regie (Alejandro González Iñárritu), Bester Hauptdarsteller (Michael Keaton), Bester Nebendarsteller (Edward Norton), Beste Nebendarstellerin (Emma Stone), Bestes Drehbuch (original), Beste Kamera, Bester Ton, Bester Tonschnitt.

Alle Kritiken der Best-Picture-nominierten Filme 2014:

Boyhood
The Grand Budapest Hotel
Die Entdeckung der Unendlichkeit
The Imitation Game
Birdman
Whiplash
American Sniper
Selma