Boyhood

Ich hatte wahrlich keine normale Kindheit, weshalb ich manchmal das Gefühl habe, gar nichts vom Leben zu wissen. Vielleicht geht es auch allen anderen so, nur dass es kaum jemand zugeben möchte. Doch jedes Mal, wenn ich die Kindheitsgeschichten anderer höre, werde ich wehmütig. Weil mich das Gefühl beschleicht, etwas verpasst zu haben.

Richard Linklater plant weit voraus. Bereits in seiner Before Sunrise/Sunset/Midnight-Trilogie bewies der Regisseur ungeheuer viel Geduld und ein Fingerspitzengefühl für glaubwürdige Charakterentwicklung. So erzählt er die Geschichte eines Mannes und einer Frau, die sich treffen, lieben lernen und am Ende verheiratet sind. Das Besondere daran? Die Filme entstanden in einem Abstand von jeweils 9 (!) Jahren. Der Effekt, die altbekannten Gesichter nach so einem langen Zeitraum gereifter, erwachsener und gezeichneter zu sehen, wirkte von mal zu mal faszinierender.

Linklaters neuestes Projekt Boyhood war lange Zeit nur absoluten Filmfreaks ein Begriff. Vor exakt zwölf Jahren kam der Mann auf eine wahnwitzige Idee: Er castete einen sechsjährigen Jungen (Ellar Coltrane), suchte sich eine passende Filmmutter (Patricia Arquette) sowie einen Filmvater (Ethan Hawke) und addierte zusätzlich eine etwas ältere Schwester (seine Tochter Lorelei Linklater, die auf eigenes Drängen im Film mitwirken wollte). Die fünf trafen sich jedes Jahr für ein paar Drehtage und konzentrierten sich darauf, die stetige Entwicklung des Jungen festzuhalten. Das Ergebnis ist ein fast dreistündiges Meisterwerk, das derzeit alle Rekorde auf Metacritic & Co. sprengt.

Auch ich fand die Idee auf Anhieb ambitioniert wie faszinierend, fragte mich aber gleichzeitig: Ist das wirklich den Aufwand wert? Muss man wirklich einen Jungen quasi in “Echtzeit“ zum Mann heranwachsen sehen? Hätte es eine konventionelle Technik mit einer handvoll unterschiedlicher Schauspieler, z.B. verschieden alter Brüder, nicht gereicht? Die Antwort, nachdem ich Boyhood gesehen habe, lautet eindeutig: Nein, hätte es nicht.

Es ist nicht nur Mason, der von Jahr zu Jahr wächst, seine Frisur verändert oder in Stimmbruch gerät. Sein ganzes Umfeld hinterlässt eine Zeitkapsel, als ob sie alle zwölf Monate ein paar Schnappschüsse aufgenommen habe. Am Anfang schimpft der Vater noch über Bush, später stellt er mit seinen Kindern Obama/Biden-Plakate auf. Der Junge besucht eine Harry-Potter-Themenparty, spielt mit den immer neusten Videospielkonsolen und macht gegen Ende Witze über die NSA. Die Schwester, die Mutter und der Vater werden sichtlich älter, ohne das störend-künstliches Makeup zum Einsatz kommen musste. Es ist alles so unheimlich natürlich, weil wir so etwas von anderen Filmen schlicht nicht gewohnt sind. Man muss sich das nur vor Augen halten: Selbst ein Großteil der langlebigsten TV-Serien umspannen einen kürzen Zeitrahmen!

Ursprünglich wollte Linklater den Film 12 Years nennen, jedoch entschied er sich aufgrund der potenziellen Verwechslungsgefahr mit dem Oscar prämierten 12 Years a Slave dagegen. Was auch gut so ist, denn Boyhood ist so oder so der viel bessere Titel. Masons Leben wird in solch einer Dichte beschrieben, man meint nach dem Abspann die zwölf Jahre im Gesamten zu kennen. Wir sehen eigentlich einen ganz normalen Jungen, der zum Teenager heranwächst und schlussendlich als junger, eigenständiger Mann gereift ist. Geht es am Anfang noch um seine Umwelt und wie er sie wahrnimmt, steuert der Film immer mehr auf sein eigenes Handeln und sein eigentliches Leben hin. Spätestens, wenn ihr ihn zum ersten Mal mit sechzehn Jahren Auto fahren seht, erinnert ihr euch unweigerlich zurück: “Verdammt… das war doch eben noch der kleine Junge, der Gedankenverloren auf der Wiese lag und ohne Sorgen den Wolkenhimmel betrachtete.“

Jeder kennt den Spruch “Sie werden so schnell erwachsen.“: Linklater gibt dieses Gefühl jedem Zuschauer zu spüren, egal ob er eigene Kinder hat oder nicht. Des Weiteren macht er Mason zu etwas Besonderem, obwohl er im Grunde genommen ein Junge unter Vielen ist. Innerhalb von drei Stunden vermittelt er mir im Ansatz das Gefühl, wie es wäre, selbst Vater zu sein und warum die eigenen Kinder IMMER etwas besonderes sind.

Die ganze Natürlichkeit, unter welcher der Film entstanden ist, schlägt auf die gesamte Schauspielerriege über. Bereits die beiden Kinder erlauben sich nicht eine Unsicherheit, nicht eine Peinlichkeit, nicht eine Ungereimtheit. Doch Ethan Hawke und insbesondere Patricia Arquette legen die Performance ihrer Karrieren auf die Leinwand. Beide gehen ihre Aufgaben als Elternteile völlig unterschiedlich an: Während er speziell am Anfang der Träumer und Lebemann ist, der seinen Kindern sowohl den Spaß am Leben als auch die Gefahren diese Welt zeigt, wird sie in die Rolle der strengen Mutter gezwängt, die regelmäßig auf den Tisch hauen muss. Ihr Charakter ist der Tragischste, weil sie einerseits alles dafür tut, dass ihre Kinder behütet und versorgt sind, und andererseits sich selbst derart vernachlässigt, weshalb sie ein paar fürchterliche Fehlentscheidungen trifft.

Was mir ebenfalls extrem gut gefiel: Während anfangs Masons Schwester fast in jeder Szene präsent ist, taucht sie mit jedem weiteren Jahr immer seltener auf. Kein Wunder, denn der Film wird schließlich zu 99% aus Sicht des Jungen gezeigt. Die Schwester ist zu Beginn seines Lebens ein zentraler Angelpunkt, der sich immer weiter von ihm entfernt, je eigenständiger und erwachsener auch sie wird.

Ich wüsste jedenfalls zu gerne, wie weit das Drehbuch im Vorfeld feststand. In der Before-Trilogie lies Linklater viele Dialoge von seinen Darstellern improvisieren, weshalb ich hinter Boyhood eine ähnliche Agenda vermute. Doch hatte er bereits vor zwölf Jahren die Idee im Kopf, dass Mason sich zunehmend für Fotografie interessieren werde? Oder entschied er sich erst im Laufe von Ellar Coltranes Entwicklung zu diesem Schritt? Und welche anderen Einflüsse abseits einiger offensichtlicher Trends sowie politischer Ereignisse hat er im Laufe der Zeit übernommen?

All diese Fragen habe ich Richard Linklater zu verdanken, der einen der “perfektesten“ Filme überhaupt gedreht hat. Abseits des Makels, dass seine eigene Tochter weder Coltrane noch Hawke oder Arquette irgendwie ähnlich sieht, ist mir jedenfalls keine Unstimmigkeit aufgefallen. Das ist umso wahnsinniger, wenn man sich erneut die Zeitspanne vor Augen hält und einem all die Dinge in den Sinn kommen, die zum Scheitern des Projektes hätten führen können. Doch Linklaters Idee strahlte mutmaßlich von Beginn so viel Herz und Selbstverständlichkeit aus, weshalb Boyhood einfach nicht schief gehen konnte.

Das letzte Wort gebührt der Musik: Jeder weiß, ich bevorzuge ganz klar eigens für den Film komponierte Soundtracks. Bei lizensierten Songs habe ich immer das Gefühl, dass sie angetackert sind und einfach nicht passen. Doch zwei der letzten Lieder, die in Boyhood zu hören sind, haben mir den emotionalen Knockout verpasst: Hero von Family of the Year und Deep Blue von Arcade Fire. Der erste wird in der vielleicht wehmütigsten Szene des gesamten Filmes gespielt, der andere ertönt gleich zu Beginn des Abspanns. Die Wirkung ist pure Magie. Und ich bin mir sicher, dass nicht die Musik den Film aufwertet – sondern genau anders herum.

Ich hatte alles andere als eine normale Kindheit. Boyhood vermittelt mir wie kein Film zuvor, was ich verpasst haben könnte. Und es ist ein wundervolles Gefühl, all das in 160 Minuten kennengelernt zu haben.

Alle Kritiken der Best-Picture-nominierten Filme 2014:

Boyhood
The Grand Budapest Hotel
Die Entdeckung der Unendlichkeit
The Imitation Game
Birdman
Whiplash
American Sniper
Selma