Selma

Wann ist es notwendig, uns auf die Vergangenheit aufmerksam zu machen? Haben wir solch Themen wie Holocaust oder Rassenhass nicht zur Genüge aufgearbeitet? Müssten sie nicht längst in all unseren Köpfen manifestiert sein? Und wozu brauchen wir dann noch mehr Filme, die uns auf die Ungerechtigkeiten der letzten Jahrzehnte aufmerksam machen, wenn wir es doch nach all der Scheiße, die in der Geschichte der Menschheit passiert ist, besser wissen MÜSSTEN?

SelmaWir schreiben das Jahr 1964: Martin Luther King, Jr. hat bereits mit 35 viel erreicht, um einen Friedensnobelpreis zu erhalten – was auch immer dieser Wert sein mag. Bedeuten tut er ihm sichtlich wenig, wenn weiterhin in den USA Schwarze auf unverhältnismässige Art und Weise unterdrückt werden. Man dürfe zwar immerhin wählen – aber nur, wer durch die Registrierung kommt. Die wiederum ist in vielen Städten in der weißen Hand einzelner Beamten, die nach eigenem Ermessen entscheiden, wer zur Wahl zugelassen wird und wer nicht.

King wendet sich direkt an den amtierenden Präsidenten Lyndon B. Johnson, die Gesetzeslage klarer zu gestalten und eine Registrierung ohne willkürliche Hindernisse zu ermöglichen. Doch Johnson ziert sich: Er sei für Gleichberechtigung, habe aber derzeit andere Baustellen, um die er sich kümmern müsse. Deshalb überredet King seine Gefolgsleute zu friedlichen Protestmärschen, beginnend in Selma – in der Hoffnung ein Zeichen zu setzen und für Aufmerksamkeit zu sorgen. Ihr erstes Ziel ist das hiesige Registrierungsbüro, wo bereits der erzkonservative Sheriff Jim Clark mit seinen bewaffneten Polizeikräften wartet…

Seid ehrlich: Wer hat Lust sich einen Film wie Selma anzuschauen? Die Prämisse schreit geradezu nach “anstrengend” – aber dabei ist das Thema weniger “schwerfällig” als einfach nur “unbequem”. Und deshalb gleicht es einem Wunder, wie “unterhaltend” der Film von Ava DuVernay geworden ist. Natürlich ist es alles andere als schön, was dort gezeigt wird – gleich zu Beginn fliegt eine Kirche mitsamt vier jungen Mädchen in die Luft. Die Explosion gleicht einem Weckruf, der euch aus allen Gedanken herausreißt.

Danach schildert DuVernay eigentlich recht nüchtern die Ereignisse, die King und seine Anhänger zur friedlichen Demonstration bewegt haben. Sie offenbart dabei ungeschönt, dass sie eine gewisse Form der Provokation darstellten und Opfer mit sich brachten. Aber gleichzeitig zeigt sie, wie notwendig Kings Bewegung war. Der Film stellt ohne Zweifel fest: Ohne ihn würde die Rassentrennung in Amerika vielleicht noch genauso stark vertreten sein wie vor den 1960er Jahren.

David Oyelowo ist der Mann der Stunde, der Martin Luther King auf eine leidenschaftliche Weise verkörpert. Oftmals pessimistisch und immer skeptisch dreinblickend, wirkt er die meiste Zeit über wie ein schüchterner, zurückhaltender Mensch. Doch sobald er eine seiner Reden schwingt, blüht er auf und zieht sowohl die Massen als auch uns Zuschauer in wenigen Phrasen auf seine Seite. Oyelowo spielt nuanciert, er spielt authentisch – und ja, es ist mehr als zynisch, dass ausgerechnet er keine Oscar-Nominierung erhalten hat.

Das gleiche gilt für die Regieleistung von Ava DuVernay: Jede Szene ist mit Bedacht gedreht, nichts wirkt unnötig oder langatmig. Auffallend ist, dass sie manche Ereignisse ohne große Einleitung zeigt und ihre Bedeutung erst im nachhinein erklärt. Man könnte auch sagen: Sie wirft den Zuschauer mehrfach ins kalte Wasser, ohne ihn zu überfordern. Sollte DuVernay diese Technik beibehalten und noch weiter ausbauen, dann sage ich ihr eine große Zukunft als Regisseurin vorraus.

Wo wurde Selma noch bei den Oscars übergangen? Ganz klar bei Kamera, Ausstattung und Kostüme. Der Film wirkt sehr glaubwürdig und echt, weil das Setting einfach stimmt. Dabei sieht nichts übertrieben teuer oder ausschweifend aus, was auch definitiv nicht zur Thematik gepasst hätte. Diese möchte schließlich mit tiefster Demut ein simples wie selbstverständliches Recht für Schwarze “einklagen”.

Und somit ist Selma in jedem Fall “wichtig”: Es zeigt, was damals falsch lief und niemals wieder falsch laufen darf. Er vermittelt mir ein Gefühl, wie sich zumindest dieser eine Aspekt der Ungerechtigkeit für alle Betroffenen angefühlt haben muss, ohne das es mich aufgrund seiner unbequemen Natur verschreckt.

Ach ja, und bevor das hier vergessen geht: Ja, der Film ist nicht 100%-ig historisch akkurat – aber das ist normales Kinogeschäft. Ich bleibe bei meiner Agenda, dass so lange ein auf Authentizität pochendes Werk nicht irgendwelche Fakten völlig verdreht oder Charaktere in ein gänzlich falsches Licht gerückt werden, ein Film für sich betrachtet werden sollte. Lest ruhig im Anschluss einen Vergleich darüber, was auf der Leinwand zu sehen ist und wie es sich in Wahrheit abspielte. Danach seid ihr ein gutes Stückchen schlauer und könnt gleichzeitiges ein fantastisches Stück Filmgeschichte genießen.

 

 

Oscar-Nominierungen: Bester Film, Bester Song (Glory).

Alle Kritiken der Best-Picture-nominierten Filme 2014:

Boyhood
The Grand Budapest Hotel
Die Entdeckung der Unendlichkeit
The Imitation Game
Birdman
Whiplash
American Sniper
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