Green Book

2012 entbrannte rund um Steven Spielbergs Film Lincoln ein kleines Skandälchen, weil er nicht der Wahrheit entspräche. Tony Kushner habe sich erdreistet und während der entscheidenden Szene zur Abschaffung der Sklaverei zwei Stimmen gezielt vertauscht, einfach um es spannender zu machen. Letztes Jahr wiederum gab es Kritiken gegenüber The Shape of Water, denn Guillermo Del Toro habe frech bei Jean Pierre-Jeunet Delicatessen geklaut. Sprich: Alle Filme sind scheiße und verlogen.

Für Frank Vallelonga, genannt Tony Lip, läuft es nicht so gut. Eben noch arbeitet der gebürtige Italiener in einem Nachtclub als Türsteher, bevor der für mehrere Wochen wegen Renovierungen schließen muss. Doch wie es der Zufall will, wird er von dem Meisterpianisten Doc Don Shirley herbei zitiert. Der sucht für eine zweimonatige Tour durch halb Amerika einen persönlichen Fahrer – und habe in dem Zusammenhang mehrfach Tony empfohlen bekommen.

Das Problem: Wir befinden uns mitten in den 1960er Jahre und Don Shirley ist Afroamerikaner. Auch Tony trägt einen latenten Rassismus in sich, den der bulliger Schläger jedoch aufgrund des verlockenden Jobangebots runter schluckt. Mithilfe des sogenannten Green Book, in dem alle für Farbige zugelassenen Lokalitäten wie Hotels oder Restaurants aufgeführt werden, begeben sich die beiden gemeinsam mit zwei weiteren Musikern auf die Reise.

Peter Farrellys Green Book hat von Anfang an einen schlechten Stand, besonders bei der filmaffinen Internet-Community. Schnell wird dem Film der höhnische Spitzname Driving Miss Daisy 2.0 angeheftet, nur mit vertauschten Rollen: der weiße Tony (gespielt von Viggo Mortensen) kutschiert den schwarzen Don (Mahershala Ali). Dass der Film von einem Großteil des Publikums gefeiert wird, zahlreiche lukrative Preise wie Best Picture beim National Board of Review oder Best Comedy/Musical bei den Golden Globes einheimst und somit schnell als Oscar-Favorit aufsteigt, bestätigt die Befürchtungen der Award-Blogger umso mehr.

Schnell wird Green Book wegen seines Magical-Negro-Images schlecht geredet, weil sichtlich Tony die zentrale Figur sei und von Don auf wundersame Weiße von seinen rassistischen Zügen geheilt werde. In dem Zusammenhang fallen Vergleiche zu anderen Oscar-prämierten Filme aus der Vergangenheit wie L.A. Crash oder The Help, die ähnliche Sünden begangen haben.

Die Spitze des Eisbergs: Das Drehbuch stammt vornehmlich von Tony Lips Sohn Nick Vallelonga, während sich die noch lebende Familie von Don Shirley von allem Geschreibsel distanziert. Eine solche Freundschaft, wie sie der Film zeigt, habe es nie gegeben. Stattdessen wäre Tony nach 18 Monaten gefeuert worden.

All diese Diskussionen habe ich verfolgt, bevor ich mir den Film anschauen konnte – womit schon mal einige Päckchen sowie Vorurteile auf dem Buckel waren. Und nun muss ich Sasha Stone von Awardsdaily vollkommen recht geben, die behauptet: Green Book ist das Opfer einer der krampfhaftesten Schmutzkampagnen, die jemals beim Rennen um den Oscar gelaufen sind.

Zuerst einmal ist Green Book allenfalls harmlos und leicht naiv, inwiefern er die Freundschaft zwischen Tony Lip und Don Shirley zeigt. Natürlich wird das so nicht passiert sein: Zu Beginn wirft Tony zwei Gläser in den Müll, nur weil zwei schwarze Installateure daran genippt haben. Keine halbe Stunde lauscht er gebannt Dons Klavierkünsten und ist bereits wie geläutert. Am Ende der Geschichte entpuppt er sich als kompromissloser Verteidiger Shirleys, der ihn unbedingt zu Weihnachten bei seiner rein weiß-italienischen Familie einlädt.

Aber meine Güte: Es ist ein fucking Film! Er mag die Probleme rund um Hautfarben und Rassenhass vereinfacht darstellen – jedoch macht er sie nicht lächerlich. Green Book möchte ja auch gar nicht den Fokus auf irgendeine Sozialkritik legen. Stattdessen ist er eine klassische Komödie, die von exakt vier Aspekten lebt: Drehbuch, Filmschnitt, Viggo Mortensen und Mahershala Ali. Und deshalb ist es kein Zufall, dass der Film genau in diesen Punkten Oscar nominiert ist.

Die erste halbe Stunde war ich noch skeptisch. In der gefiel mir allenfalls Mortensens grandiose Darstellung, der vor allem mit seiner Sprache und seinen Gestiken genau den für diese Story nötigen Tony Lip zeichnet. Er karikiert ihn auf eine bemerkenswert sympathische Art. Allerdings fehlte mir darüber hinaus der Witz, der Funke.

Der sprang erst über, als Mahershala Ali zum Einsatz kam: Auf der einen Seite wirkt er sehr ernst, sehr sachlich und vor allem extrem exzentrisch. Auf der anderen Seite ist er der perfekte Pointengeber. Der verbale Schlagabtausch zwischen ihm und Mortensen ist Schauspiel und Komödie pur. Allein das Minenspiel, dass Ali süperb beherrscht, ist herrlich subtil und klar zugleich. Es macht den Unterschied aus, weshalb ich bei eigentlich abgedroschen klingenden Szenen herzhaft lachen muss.

Dazu kommen die Dialoge, die wirklich hervorragend geschrieben sind. Sie bieten genau das richtige Material für die beiden Hauptdarsteller. Natürlich ist die Geschichte drumherum recht gewöhnlich – aber selbst ich, der innovative Filme bevorzugt, bestehe nicht auf ein neu erfundenes Rad mit der Brechstange. Mir kommt es auf die Wirkung an – und die ist im Falle von Green Book erstaunlich frisch.

Der gut getimte Filmschnitt ist dann das I-Tüpfelchen und gerade für so eine Komödie entscheidend. Es bedarf sowohl eine klare, sichtbare Linie, als auch gezielt eingestreute Cuts. In beiden Fällen ist Green Book einwandfrei, weshalb mich der Aufschrei bezüglich der Filmschnitt-Nominierung am meisten wundert.

Bezüglich Oscar-Chancen formuliere ich es mal so: Vor fünf Jahren hätte der Film bei gleicher Konkurrenz Best Picture gewonnen. Da gab es zwar auch schon Schmierenkampagnen ähnlicher Art – doch dieses Schlechtgerede der heutigen Tage erreicht von Jahr zu Jahr ein neues Level.

Letztlich muss Green Book mächtig zittern, denn seit dem Golden-Globe-Erfolg und dem (in meinen Augen gar nicht mal überraschenden) Producer Guild Award geht es mächtig abwärts. Peter Farrelly ist nicht für die Regie nominiert und hat als jüngste Demütigung den sicher gegelaubten Writer Guild Award für das Originaldrehbuch verloren – gegen einen Film, der nicht mal bei den Oscars nominiert ist! Klar gilt das somit auch für Roma und Vice – allerdings lebt der erstgenannte Film von ganz anderen Stärken und letzterer ist eh der größte Außenseiter des diesjährigen Best-Picture-Feldes. Sprich: Dieser Verlust ist das bislang bedenklichste Gegenzeichen.

Wo also vor ein paar Wochen noch ein solider Durchmarsch für Film, Drehbuch und Nebendarsteller nahezu sicher war, sollte derweil nur Mahershala Ali ohne Sorgen zur Verleihung gehen.

So oder so ist der Film ein Verlierer: Scheitert er bei den Oscars, dann hat die Kampagne wohl Erfolg gehabt und viele Academy-Wähler überzeugt, die eigentlich total auf den Stoff abfahren. Gewinnt er, dann jault alle Green-Book-Disser auf, wie rückständig die Academy doch sei. Dabei würden sie einfach einen lustigen und auch laut IMDB beliebten Film wählen. Und das sage ich, der ihn aus ganz anderen Gründen den ersten Platz nicht geben würde – weil mir andere Filme einfach noch besser gefallen haben. So einfach ist das manchmal.

Nominiert für: Bester Film, Bester Hauptdarsteller (Viggo Mortensen), Bester Nebendarsteller (Mahershala Ali), Bestes Original-Drehbuch, Bester Filmschnitt