The Last Guardian

Elf Jahre – so lange ist es her, als Shadow of the Colossus die Welt der Spiele in eine neue Dimension hievte. Mitte des Jahres outete ich es als mein absolutes Lieblingsspiel, weil es wie kein anderes eine unvergleichliche Symbiose aus cleverem Leveldesign und emotionaler Tour-de-Force bildet. Des Weiteren bezeichne ich Fumito Uedas Regieleistung als die mit Abstand beste, die je für ein Videospiel aufgebracht wurde. Shadow of the Colossus ist wahrlich ein Kunstwerk, das sogar seine Schwächen wie Stärken aussehen lässt.

Last_GuardianAls der erste Trailer zu The Last Guardian durch das Internet geisterte, war nicht nur ich gefangen. Die Idee, gemeinsam mit einem meterhohen, flauschigen Tiergefährten durch eine wie in Ico verlassen wirkende Landschaft zu reisen, strahlte vom ersten Augenblick an unbegrenzt viel Originalität sowie Charme aus. Doch im Laufe der Jahre verblasste die Faszination zunehmend, schlicht weil man weder neues Bildmaterial noch einen festen Releasetermin zu Gesicht bekam. Zyniker bescheinigten zwischenzeitlich sogar das definitive Aus eines überambitonierten Experimentes – bis Sony vor einem Jahr die Existenz von The Last Guardian bestätigte.

Letzte Woche ist es endlich erschienen – und die Berichte überschlagen sich gegenseitig mit konträren Meinungen. Manch einer mutmaßte bereits im Vorfeld, dass es nach der langen Zeit und dem ganzen Hype nur ein Flop sein könne – kurioserweise basierend auf dem No-Man’s-Sky-Debakel, das vor ein paar Monaten die Spielewelt schockierte. Als ob schon immer hoch gehypte Games niemals ihre Erwartungen gehalten hätten…

The Last Guardian lässt sich in der Tat von zwei Seiten betrachten. Die eine beurteilt es wie jedes gewöhnliche Spiel und bewertet nacheinander grundlegende Aspekte wie Grafik, Steuerung oder künstliche Intelligenz. In allen drei Kategorien könnte man das Spiel abwatschen und als die Enttäuschung zu den Akten legen, die sich die Zyniker gewünscht haben. Ja, „wünschen“: Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass einige The Last Guardian gerne brennen sehen wollen. Heute möchte man ja lieber Verrisse anstatt Lobeshymnen von sich geben.

Die andere Seite geht einen ungewöhnlichen, unkonventionellen Weg. Sie betrachtet The Last Guardian als das, was es sein möchte: ein möglichst reales und zugleich kunstvolles Abbild zwischen einer Freundschaft von Mensch und Tier.

Ich steuere direkt einen kleinen Jungen, der indirekt einem großen Trico Kommandos gibt. Zu Beginn des Spieles sind meine Möglichkeiten noch sehr eingeschränkt. Ich kann nach ihm rufen und auf ihm herum klettern – seine flauschigen Federn geben hierfür genügend Halt. So gelange ich zu ansonsten unerreichbaren Plattformen und zerstöre mit den blitzartigen Geschossen, die aus Tricos Schwanzspitze zischen, dicke Holzbarrikaden.

Im Hintergrund meldet sich ab und an der Erzähler und gibt mir Tipps. An einer Stelle meint er, dass die Bande zwischen dem Jungen und dem Tier nun eng genug sei, weshalb ich gezielter Kommandos erteilen darf. Dazu gehört das Zeigen in eine bestimmte Richtung, in die Trico laufen soll, oder das Animieren zu einem Sprung.

vlcsnap-2016-12-12-06h42m14s196Für die meisten Spieler ist dies die entscheidende Stelle, in der sie The Last Guardian entweder lieben oder hassen lernen. Denn Trico ist kein durchweg zuverlässiger Gefährte. Er sitzt manchmal einfach nur herum und reagiert nicht, obwohl ich wie wild auf eine Wand zeige, an die er sich lehnen soll. Ich versuche es von einer anderen Seite, laufe um ihn herum, streichele ihn etwas. Irgendwann leistet er meinem Kommando folge und tut das, was ich möchte.

Steckt dahinter reine Willkür oder Absicht seitens der Entwickler? Nachdem ich The Last Guardian beendet habe, muss ich eindeutig auf letzteres beharren. Zum einen benötigt ihr eigentlich nur etwas Geduld und Ruhe, um Trico von euren Ideen zu überzeugen. Hektisches Kommandieren hingegen bringt rein gar nichts. Zum anderen gehorcht mir das kleine Kerlchen im Laufe des Spieles immer mehr und gegen Ende zickt er so gut wie gar nicht. Das liegt einerseits daran, wie ich ihn behandelt habe – und andererseits, weil er mir mehr und mehr vertraut.

„Kleines Kerlchen – das Viech ist riesengroß!“ – Ja, natürlich. Aber es ist ein Kuscheltier durch und durch. Wer Katzen besitzt, der erkennt sofort zahlreiche Verhaltensmuster wieder. Allein Tricos Bewegungen wirken atemberaubend lebendig und organisch. Von Anfang an habt ihr das Gefühl, hier ein echtes Lebewesen vor Augen zu haben – und keine vom Computer gesteuerte K.I. Dies drückt die Immersion und die Atmosphäre in ungeahnte Höhen. Ihr freut euch mit jedem Sprung, den ihr reitend auf Trico miterlebt, und geratet instinktiv in Panik, wenn er an einem Vorsprung hangelnd in den tiefen Abgrund zu stürzen droht. Und ihr seid mächtig stolz, wenn das Tier von alleine auf kluge Ideen kommt und den richtigen Weg vor euch aufspürt.

The Last Guardian setzt vom klassischen Spieldesign betrachtet den Fokus auf das Klettern und das Erforschen. In bester Tomb-Raider-Manier hangelt ihr euch von Vorsprung zu Vorsprung, kraxelt Wände empor oder hüpft von einer Plattform zur nächsten. Der Unterschied zu Lara Croft & Co. liegt nicht nur in Trico begraben: Die Welt lässt euch bei der weiten Sicht und den riesig hoch gebauten Türmen mehrfach nach Luft ringen. In dieser Hinsicht erinnert The Last Guardian am stärksten an seine spirituellen Vorgänger Ico und Shadow of the Colossus, nur dass dank PlayStation-4-Power viel mehr Größe möglich sind.

vlcsnap-2016-12-12-06h39m02s57Ja, das Spiel ruckelt – ein absolutes No-Go in der heutigen Zeit, sagen jedenfalls die Technik-Junkies. Manch einer schüttelt gar den Kopf, wie ein zehn Jahre in der Entwicklung steckendes und ursprünglich für die PlayStation 3 konzipiertes Spiel technisch derart schwach sei. Dabei liegt die Antwort klar auf der Hand: The Last Guardian hat deshalb so viele Jahre auf dem Buckel, eben WEIL dieses Konzept niemals gescheit auf der alten Konsole möglich gewesen wäre.

Zum einen lebt die Welt von wahrlich gigantischen Proportionen, wenn beispielsweise ein ganzer Turm unter euch kollabiert und die Kamera schön weit nach hinten zoomt, um die ganze Pracht einzufangen. Zum anderen stellen die Animationen von Trico schlicht eine neue Referenzklasse dar. Ganz davon abgesehen braucht das Spiel gar keine Entschuldigung dieser Art, weil es eben auch trotz Einbrüche in die 20 Frames-per-Seconds-Region durchweg funktioniert – interessanterweise ein Punkt, an dem sich niemand im Falle des ersten Dark Souls gestört hat…

Dann wäre da noch die Kamera, die für manchen ein ähnliches Ärgernis darstellt wie jene in Shadow of the Colossus. Und wieder wird man mir eine rosarote Brille bescheinigen, wenn ich ähnlich wie damals argumentiere und den Entwicklern mehr Absicht anstatt Versagen attestierte. Bereits in den ersten Szenen ist mir nämlich etwas aufgefallen, was sich durch das gesamte Spiel zieht: Sobald ihr alleine mit dem Jungen herumlauft, ist die Kamera auffallend nah an ihm dran. Das stört in der Tat die Übersicht – aber es scheint gerade deshalb in meinen Augen ein Stück weit gewollt, weil es damit perfekt die eingeschränkte Sicht eines Kindes suggeriert. Ich spinne? Schaut euch den Film Beasts of the Southern Wild an: Dort vollführt Benh Zeitlin einen ähnlichen Trick auf Zelluloid.

Wieder relativere ich von der anderen Richtung: Sollte es sich um ein „Versehen“ seitens der Entwickler handeln, dann ist das auch nicht so dramatisch wie es zunächst klingt. Mit etwas Ruhe könnt ihr die Kamera stets in eine korrekte Position ausrichten. Das Gefühl mangelnder Übersicht hielt bei mir maximal fünf Sekunden an – und resultierte zu keinem Zeitpunkt in einer fatalen Situation. Genau wie in Shadow of the Colossus.

vlcsnap-2016-12-12-06h37m53s133Wenn ich The Last Guardian ernsthaft etwas vorwerfen möchte, dann den kurzen Leveldesignhänger im letzten Drittel des Spieles: Dort gibt es eine Passage, die knapp eine Stunde andauert, und in der ich nichts weiter tue als klettern und mit Trico durch die Gegend springen. Zu dem Zeitpunkt befürchtete ich, dass den Entwicklern die kreative Muse ausging – zum Glück haben sie sich aber gefangen und präsentieren zum Finale hin dann doch noch ein paar bemerkenswerte Highlights, die über eine reine Geschichtenerzählung hinaus gehen.

The Last Guardian ist ein unglaublich gutes Spiel – im Sinne von: Manche werden das nicht glauben wollen. Es wird aufgrund der Entstehungsgeschichte und den hohen Erwartungen dank Ico und Shadow of the Colossus mit sehr strengen Augen betrachtet. Diese werden jeden, der es abfeiert, mit schnöden Anti-Fanboy-Gesängen zum Verstummen bringen wollen. Ein ruckelndes Spiel, mit einer suboptimalen Kameraführung und einer K.I., die nicht auf Kommando reagiert – wie kann man so einen Scheiß gut finden, wird es heißen.

The Last Guardian ist ein einmalig gutes Spiel – im Sinne von: Solch ein Meisterwerk erleben wir vielleicht einmal alle fünf Jahre. Das gewöhnliche Kletterabenteuer wird allein durch die Simulation der besten Figur, die ihr je in einem Spiel gesehen und vor allem gefühlt habt, auf eine schwindelerregende Höhe gestellt. Jeder, der sich auch nur halbwegs darauf einlässt, wird am Ende das Gefühl haben, mit Trico einen wahren Freund gefunden zu haben – einem, dem ihr euer Leben anvertrauen würdet.

Diese Faszination wird durch eine magische Welt, einen dezenten wie hervorragend komponierten Soundtrack und einer subtilen, wie höchst emotional erzählten Geschichte noch weiter nach oben getragen. Und Fumito Ueda hat in meinen Augen mit gerade mal seinem dritten Werk Shigeru Miyamoto als besten, mutigsten sowie kreativsten Spieledirector der Welt abgelöst.