Wanted: Best Picture Frontrunner

Die Welt der Award-Shows ist im Aufruhr. Die Zuschauerzahlen schwinden, mutmaßlich durch die Zweiteilung Amerikas. Sprich: Der Standard-Trump-Anhänger traut Hollywood & Co. nicht mehr. Daraus resultieren abenteuerliche Ideen, um mit falschen Mitteln dagegen zu steuern. So wollte die Academy of Motion Picture Arts and Sciences einen Best-Popular-Picture-Award einführen. Schauder.

Das wird wohl jetzt nicht mehr passieren. Denn die Award-Shows treiben gerade auf eine Kehrtwende hin, die vor allem gegen Kritiker und Liebhabern von Artsy-Filmen ätzt. Der jüngste Beweis: die Golden Globes, die just in dieser Nacht Green Book als Beste Komödie und Bohemian Rhapsody als Bestes Drama ausgezeichnet haben.

Doch der Reihe nach… und erst einmal ein Disclaimer: Die meisten Filme, um die es sich in diesem Blogeintrag dreht, habe ich noch nicht gesehen. Ich möchte also weder den einen noch den anderen persönlich verurteilen. Aber es sind bereits jetzt so viele ungewöhnliche Dinge passiert, die nicht „normal“ sind – und darüber lohnt es sich doch zu schreiben, oder?

In einem „normalen“ Jahr würde der diesjährige Best-Picture-Sieger bereits feststehen: A Star is Born. Ich meine: Bradley Cooper, ein Schauspieler wird zum Regisseur und liefert ein durchweg gefeiertes Drama-Musical ab. Klar, es ist ein Remake – doch die Faszination über die Umsetzung ist breit gefächert. Und Oscar liebt diese Robert Redford, Mel Gibson, Kevin Costner Masche. Richtig? Blöd nur, wenn trotz Lady-Gaga-Glamour bei den Globes nur ein mickriger Preis für den besten Song abfällt.

In einem „normalen“ Jahr würde der diesjährige Best-Picture-Sieger bereits feststehen: Green Book. Also wirklich: Driving Miss Daisy, nur umgedreht… mit einem schwarzen Konzertpianisten, der von einem weißen, bulligen Türsteher kutschiert wird – was soll da schief gehen? Verpackt in eine leicht verdauliche Komödie, mit ernsten Untertönen? Und auch noch in einem Jahr, wo Spike Lee einen tollen Film wie BlackKklansman rausbringt, den die Academy dann wieder á la Do the Right Thing ignorieren kann? Geschichte wiederholt sich doch… sagt man mir jedenfalls immer wieder.

Da liegt jedenfalls bereits das erste Paradoxon dieser Saison begraben: Wir haben ZWEI altbekannte Oscar-Szenarien, die so noch nie aufeinander geprallt sind. Wer steigt am Ende als Sieger hervor?

Der tragische Verlust des Best-Picture-Oscars von La La Land hat jedoch etwas anderes gezeigt: Die Academy hat sich verändert. Sie ist vielschichtiger geworden – mehr Frauen, mehr Farbige, mehr Nicht-Amerikaner. Der Sieg von Moonlight oder auch drei Jahre zuvor von 12 Years a Slave deutet daraufhin, dass die Academy gerne mal den gleichen Geschmack hat wie die Welt der Kritiker.

Demnach müsste es doch Roma machen, Alfonso Cuarons hochgefeierte Hommage an sein Kindermädchen. Persönlich bis zum geht nicht mehr, komplett in Schwarz-Weiß, Kameraeinstellungen um Sterben schön. Aber kann wirklich ein fremdsprachiger Film Best Picture kriegen? In diesem speziellen Fall hätte ich ohne mit der Wimper zu zucken gesagt: Ja! Roma wäre perfekt!! Besser als Ang Lees Tiger & Dragon, der anno 2000 verdammt nah dran war!!!

Und dann kommt das Ding auf Netflix… und ja: Es wird einige Oscar-Wähler geben, die den Film genau aus diesem Grunde aus Prinzip nicht wählen werden. Sie werden ihn wohl nicht mal platzieren. Weil Roma aus ihrer Sicht ein TV-Film ist und zu den Emmys gehört. Immerhin hat er bei den Globes das nötigstes geschafft und Best Director sowie Best Foreign Language Film ergattert. Für Best Drama durfte er nicht nominiert werden.

Die Kombination aus 12 Years a Slave und Moonlight ist für eine weitere Analyse gut: Filme mit und von Afroamerikanern haben Hochkonjunktur. Das auch genau zum richtigen Zeitpunkt, denn es kommen derzeit einige Meisterwerke heraus. Ava DuVernays Selma war ebenso ein Kandidat, für den Paramount aus völlig unverständlichen Gründen keine Kampagne betrieben hat und der trotzdem wie durch ein Wunder für Best Picture nominiert war.

Also macht es dann BlackKklansman? Gerade was den Preis des besten Regisseurs anbelangt, so liebt die Academy doch „Geschichten“ – wie jene von Kathryn Bigelow als erste siegende Frau für The Hurt Locker oder Martin Scorseses mega-überfällige Auszeichnung für The Departed.

Nur wo ist die Geschichte für Spike Lee? Herr Gott, wo war sie letztes Jahr für Jordan Peele?? Oder davor für Barry Jenkins??? Steve McQueen???? Warum bekommt kein Afroamerikaner seine Oscar-Geschichte, die ihn sicher zum Sieg führt?

Das größte Problem für BlackKklansman ist jenes, das ich zu Beginn des Blogeintrags angesprochen habe: Der Academy laufen die Zuschauer weg. Und deshalb WERDEN sie erstmals einen Superheldenfilm nominieren. Black Panther. Wenn ihr mich fragt: VÖLLIG ZURECHT! Nicht, weil er deutlich besser ist als The Dark Knight. Oder Superman. Oder Avengers. Oder Tim Burtons Batman. Nein: Einfach weil diese genannten Filme es in meinen Augen auch verdient gehabt hätten und die Academy diese Versäumnisse endlich mal eingestehen soll, anstatt ständig den immer gleichen Fehler zu wiederholen!

Die Frage ist vielmehr: Würde Black Panther auch mit dem alten Verfahren nominiert werden, als es fünf feste Plätze für Best Picture gab? Erstaunlicherweise ja, denn: Das Ding hat eine Golden Globe Nominierung für das Beste Drama erhalten, obwohl es dort keine Regeländerungen gab und die anderen von mir genannten Filme ebenfalls kaltlächelnd ignoriert wurden.

Obendrein sackte Black Panther eine Nominierung für das beste Schauspieler-Ensemble bei der Screen Actor Gilde ein. Vor Green Book! Vor The Favourite!! Also Filme, die von ihren Schauspielern leben – und das nicht zu knapp! Das Ensemble von Black Panther ist laut der Screen Actor Gilde BESSER als Christian Bale, Amy Adams, Sam Rockwell und Steve Carell in Vice!!! DAS ist ein Ausrufezeichen, das kann kein Edding so dick markieren.

Und trotzdem – Regisseur Ryan Coogler ist bislang nirgends zu sehen. Morgen könnte er bei der Director Gilde nominiert werden. Ich drücke ihm wirklich die Daumen, weil er mit seinem erstaunlich unauffälligen Stil genau den richtigen Ton getroffen hat – weshalb Black Panther nebenbei erwähnt mein zweitliebster Superheldenfilm ist. Warum zum Geier aber wird er von allen Vereinigungen, die den Film bis zum geht nicht mehr umarmen, brutalst ignoriert?

Ich habe da so eine Theorie… und die gefällt mir ganz und gar nicht. Black Panther wird nicht nominiert, weil die Academy oder die Globes oder der Critic Choice Award oder die Gilden aus ihren vergangenen Fehlern gelernt haben. Nein: Er wird nominiert, weil ihnen die Felle weg schwimmen. Weil sie denken: Wenn wir solche Filme nominieren, dann mögen uns die Kinobesucher wieder.

Und damit kommen wir zur eigentlichen Wahnsinnsstory, die ich bereits zu Beginn angerissen habe und Grud für mein heutiges Geschreibsel ist: Bohemian Rhapsody. Nochmal zur Erinnerung: Ich habe den Film bislang nicht gesehen. Aber inzwischen fährt meine Erwartungshaltung Achterbahn wie nirgends zuvor. Ich erwarte irgendetwas zwischen 1 und 10 Punkten.

Ich gebe zu: Persönlich hab ich den Film anfangs nicht besonders ernst genommen. Ein BioPic über einen verstorbenen, beliebten Musiker halt – ja, o.k. Gibt es Hunderttausende. Werden immer früh als Award-Lieblinge gehandelt und gehen meist früh baden. Selbst letztlich hochgelobte wie Walk the Line purzeln am Ende unter ferner liefen.

Dann der Regisseur: Bryan Singer. Wird ein paar Wochen vor Drehschluss rausgeschmissen. Soll mehrfach zu spät oder gar nicht mehr am Set erschienen sein, weshalb der Kameramann seine Arbeiten übernehmen musste. Dazu kommt die Rückkehr von Anschuldigungen wegen Vergewaltigung von Minderjährigen, die direkt nach dem Weinstein-Debakel von einem weiteren Fall untermauert werden.

Es ist fast schon ein Wunder, dass der Film letztlich erschienen ist – und nach den Richtlinien der Director Gilde nur einen Regisseurnamen tragen darf, der da ist: Bryan Singer.

Das Resultat wird von den Kritikern nahezu vernichtet – jedenfalls für die Ambitionen, die dahinter stecken. Rami Maleks Darstellung als Freddie Mercury wird noch universell gefeiert – aber der Film selbst sei allenfalls durchwachsen. Vor allem Queens-Liebhaber nehmen sämtliche Abweichungen von der Realität übel, speziell was die Darstellung von Mercurys Sexualität und seiner HIV-Erkrankung anbelangt. Schnell kommen Gerüchte auf, dass die verbleibenden Band-Mitglieder ihre Finger im Spiel hatten und bewusst ein Stückchen Geschichte geradebiegen möchten.

Nun hege ich persönlich die Agenda: ein Film ist ein Film und keine Dokumentation. Wenn er für sich gesehen funktioniert, dann ist das o.k. Und im Prinzip haben es auch andere genau so gehandhabt, wenn man sich A Beautiful Mind, Braveheart oder Argo anschaut – allesamt fern jedweder Realität und doch Best-Picture-Gewinner. Aber im Fall von Bohemian Rhapsody klappen die Messer reihenweise auf. Jedenfalls bei den Kritikern.

Der Kinobesucher hingegen ist fasziniert: Der Film ist trotz der negativen Vorzeichen ein echter Erfolg und schnellt auf IMDB schnell über die wichtige 8.0-Marke. So weit ist das noch nichts ungewöhnliches, denn es gab schon immer solche Diskrepanzen – allerdings ist es mehr als bemerkenswert, dass nun plötzlich die ganzen Award-Shows die Seite wechseln.

Der gemeine Oscar-Watcher hatte Bohemian Rhapsody spätestens nach dem desaströsen Metacritic-Schnitt von 49 von 100 Punkten abgeschrieben gehabt. Es gibt nur eine Best-Picture-Nominierung, die drunter liegt: Stephen Daldrys Extrem laut und unglaublich nah. Die kam buchstäblich aus dem Nichts, weil der Film überall sonst völlig leer ausging.

Bohemian Rhapsody hingegen hat bislang einen Lauf, der an einen waschechten Favoriten erinnert: Eine Nominierung bei der Producer Gilde, genau wie Black Panther eine Nominierung für das Schauspieler-Ensemble bei der Screen Actor Gilde und jetzt eben dieser Gewinn als Bestes Drama bei den Golden Globes. Vor A Star is Born. Vor BlackKklansman. Vor Black Panther. Und vor If Beale Street Could Talk, dem gefeierten Nachfolge-Drama von Barry „Moonlight“ Jenkins.

Laut der Hollywood Foreign Press Association ist Bohemian Rhapsody besser als der klassische Oscar-Frontrunner, als das potenzielle Spike-Lee-Drama und als das Superhelden-Phänomen. Es ist ziemlich klar, dass Bryan Singer keine Nominierung als Regisseur für irgendetwas bekommt – aber wäre es möglich, dass unter diesen Voraussetzungen der Film bei den Oscars siegt? À la Argo? Oder noch besser: Wie Driving Miss Daisy?

Ich glaube nicht wirklich dran – und müsste ich heute tippen, dann würde ich ganz vorsichtig Richtung Green Book schielen, den immer noch viel zu viele Oscar-Watcher aufgrund seiner Leichtfüßigkeit unterschätzen. Zum Glück ist dank Shape of Water dieser eine elendige Fluch weg: Ein Film „darf“ jetzt auch ohne Screen-Actor-Ensemble-Nominierung gewinnen.

Man darf nicht vergessen, dass die Meinungen zwischen der Academy und den Golden Globes stetig weiter auseinander driften. Aber das gerade hier A Star is Born verliert… und am Ende Bradley Cooper keinen einzigen Globe gewinnt, wo er eigentlich hätte drei kriegen können/sollen/müssen… das ist einfach nicht normal.

Hat also die Hollywood Foreign Press Association ebenfalls mit sich gehadert und überlegt: Wie können wir wieder mehr Zuschauer erlangen? Haben sie Bohemian Rhapsody vielleicht deshalb gewählt, eben weil es von Kritikern so zerrissen und vom Kinobesucher gefeiert wurde?

Die Oscar-Nominierungen werden in gut zwei Wochen, ergo am Dienstag den 22. Januar, bekannt gegeben. Rechnet mit Best-Picture-Nominierungen von A Star is Born, Roma, Green Book, BlackKklansman, Black Panther, The Favourite und, ich trau es mich kaum zu sagen, aber ja, Bohemian Rhapsody. Dazu könnten sich Vice, If Beale Street Could Talk, A Quiet Place, Crazy Rich Asians, First Man, First Reformed oder Mary Poppins Returns gesellen. Das wären vierzehn Filme für potenziell zehn Plätze – wobei beim derzeitigen Nominierungsverfahren acht bis neun am wahrscheinlichsten sind.

So oder so sind alle Karten offen und nichts ist in Stein gemeißelt. Und deshalb hoffe ich innerlich einfach ganz unschuldig, dass Alfonso Cuaron seinen zweiten Regie-Oscar und endlich einen für Best Picture ergattert. Denn bei all dem Zirkus, der da gerade geschieht, kann ich mir kaum einen besseren Film von 2018 als Roma vorstellen. Netflix my ass.