Dunkirk

Wenn es um englischsprachige Filme geht, dann gibt es drei große Bewertungsgruppen: das Publikum, die Kritiker und die Industrie. Das erste sind die Kinogänger und IMDB-Besucher, zwischen denen sich schnell Fanblöcke bilden. Das zweite sind die Schreiber und Pseudo-Intellektuellen (wozu auch ich gehöre ;), deren Meinung aufgrund ihres Erfahrungsschatzes und ihrem Zwang, alles zu Tode analysieren zu wollen, geprägt ist. Und das dritte sind die Filmschaffenden persönlich, zu denen auch die Oscar-Jury gehört.

Das Faszinierende an dieser Struktur: Selten stimmen die Meinungen überein. Und es ist sehr auffällig, dass der Lieblingsfilm eines bestimmten Regisseurs bei den einen oft der am meisten “verhasste” bei den anderen ist.

Ein Strand und hunderttausende Soldaten: Das Naziregime startet in den ersten zwei Jahren des zweiten Weltkrieges voll durch und erobert mit als Erstes den Nachbarn Frankreich. Die dort ansässigen Soldaten stammen aus ganz Europa, aber vornehmlich aus England, und sitzen am Strand Dünkirchen fest. Gleichwohl der Kanal zur britischen Insel nicht allzu breit ist, ist es zum Schwimmen dann doch zu weit. Und sämtliche Versuche, die Burschen per Flugzeug oder Schiff abzuholen, werden von den Jagdfliegern der Deutschen zunichte gemacht.

Wir wissen alle, dass es letztlich doch geklappt hat. Anstatt erneut riesige Schiffe der Marine auf die Reise zu schicken, die ein allzu leichtes Ziel für den Gegner sind, fahren hunderte kleine Zivilboote los, um die Truppen nach und nach zu evakuieren. Parallel dazu schützen Flieger der Allierten den Luftraum, damit die Boote so wenig wie möglich an der Ausführung der Operation gehindert werden.

Christopher Nolan nimmt diese sehr dramatische Geschichte und macht daraus einen Film, der beinahe durch reine Interpretation entstanden ist. Kein Witz: Ursprünglich gab es kein Drehbuch – und am Ende hielt sich Nolan an ein mageres 76-seitiges Skript.

Das Konzept des Filmes ist umso interessanter: Er erzählt die Soldaten am Strand, die Fahrt eines Zivilbootes und die Luftkämpfe der Jagdflieger. Die Strandszenen überspannen eine Woche, die Bootszenen einen Tag und die Flugszenen eine Stunde. Und trotzdem werden die drei Gruppen parallel gezeigt, bis sie am Ende auf den gleichen Moment (nämlich dem der erfolgreichen Evakuierung) hinauslaufen.

Allein dieses Killerkonzept dürfte Lee Smith den Filmschnittoscar sichern (gleichwohl er mit den Cuttern von Baby Driver eine extrem hochwertige Konkurrenz hat, deren Film allerdings im Gesamten weniger beliebt innerhalb der Academy ist). Die Idee ist typisch Nolan und sie funktioniert. Sie hebt Dunkirk von anderen Kriegsfilmen ab und garantiert, dass es gar keine ausschweifende Geschichte mit Shakespeare-würdigen Dialogen braucht.

So kann sich Nolan voll und ganz auf das konzentrieren, was er am besten kann: Regie führen. Er klebt eine beklemmende und dramatische Szene nach der anderen zusammen und lässt den Zuschauer ähnlich wie Alfonso Cuarons Gravity kaum Luft zum Atmen.

Man spürt die Angst der hilflosen Soldaten, die Nervosität der zivilen Bootsfahrer und das Adrenalin der Jagdflieger. Und all das schafft Nolan, ohne auch nur einen einzigen Nazi-Soldaten direkt zu zeigen! Man sieht die Gegner nur von Weitem, wie sie mit ihren Bombern zum Sturzflug ansetzen, oder ganz zum Schluss als dunkle Silhouetten. Das ist meisterhaft und deswegen hat Christoper Nolan seine erste Nominierung für die Beste Regie mehr als redlich verdient.

Doch wo kurioserweise die Academy endlich Nolans Regieleistungen honoriert und die Kritiker Dunkirk als seinen besten Film bezeichnen, da sind die alten Fans von The Dark Knight bis Interstellar fast schon enttäuscht. Laut IMDB ist Dunkirk Nolans drittschlechtester Film – nur sein Debut Following sowie Insomnia liegen weiter unten. Zugegeben: Die Durchschnittswertung kommt immer noch auf eine stolze 8.0 (derzeit, jedenfalls), weil Nolans Filme allgemein erstaunlich gut auf IMDB abschneiden. Doch trotzdem wirkt es kurios, dass jetzt, wo ihn seinesgleichen wie Kritiker abfeiern, einige seiner Fans sich vor den Kopf gestoßen fühlen.

Der Grund hierfür ist eben das Konzept, das komplett auf Drehbuchstärken pfeift. Nolan fixiert sich genau wie Cuaron auf eine großartige Inszenierung. Der Rest ist ihm egal – aber eben nicht dem Publikum.

Was auch nicht vernachlässigt werden darf, ist das Format: Dunkirk wurde primär auf die riesige Leinwand der IMAX-Kinos zugeschnitten, was man besonders bei den Flugszenen merkt. Dort möchte Nolan den Flug im freien Himmel vermitteln, wofür entsprechend Platz benötigt wird. Zum Glück hat er mit Hoyte van Hoytema den richtigen Kameramann gefunden, der die Szenerie eher mit gedeckten anstatt satten Farben einfängt.

Nehmt noch Hans Zimmers wummernden Soundtrack hinzu und ihr habt das beste Style-over-Substance-Werk des Jahres. Was positiv gemeint ist, denn ein Kinofilm muss nicht immer mit einem originellen oder hochklassigen Drehbuch aufwarten. Dunkirk möchte ansatzweise den Eindruck vermitteln, wie sich die Soldaten oder die Steuermänner der Boote damals gefühlt haben.

Und deshalb gebe ich Christopher Nolan recht, wenn er am liebsten einen rein improvisierten Film gemacht hätte. Er mag damit seine Fans enttäuschen, die ihn wegen seiner komplex strukturierten Geschichten lieben. Doch er selbst zeigt mit dieser Neuausrichtung viel Mut und ist dem Ziel, ein auf Dauer unvergesslicher Regisseur zu sein, ein gehöriges Stückchen näher gekommen.

Oscar-Nominierungen: Bester Film, Beste Regie, Bester Filmschnitt, Bester Tonschnitt, Beste Tonabmischung, Beste Musik, Beste Kamera, Bestes Produktionsdesign.