Call Me by Your Name

Nennt mir mal ein paar wirklich grandiose Liebes- oder Beziehungsfilme der letzten fünfzehn Jahre. Also bitte nichts, was eher den Teenie in uns begeistert und vornehmlich MTV Movie Awards abräumt. Spontan kommen mir Brokeback Mountain, Carol und Moonlight in den Sinn.

Und ja: Ich bin nach wie vor Stock-Hetereo…

Der junge Elio lebt mit seinen Eltern in einer ländlichen Gegend in Italien. Sein Vater ist Archäologieprofessor und lädt regelmäßig Studenten für den Sommer ein, um sie bei ihrer Ausbildung zu unterstützen. In diesem Jahr ist Oliver an der Reihe: ein selbstbewusster junger Mann, der sich schnell vor Ort eine Frau in seinem Alter anlacht und fleißig seinen behaarten Oberkörper zur Schau stellt.

Elio ist sichtlich angetan von Oliver, verkehrt seine Gefühle jedoch in ein typisches Teenie-Verhalten. Er reagiert entsprechend zickig, als Oliver aufgrund einer Verspannung seine Schulter massiert, und flüchtet sich in eine sexuelle Beziehung mit seiner Freundin Marzia.

Lange kann Elio die Illusion nicht aufrecht erhalten, zumindest nicht sich selbst gegenüber: Mit jeder weiteren Unternehmung, die er und Oliver gemeinsam machen, kommen sie sich näher und beginnen eine liebevolle wie sehr emotionale Romanze.

Call Me By Your Name ist für viele Oscar-Fans der persönliche Favorit für den Best-Picture-Preis. O.k., ich weiß: Nahezu alle sind liberal und ein nicht zu verachtender Anteil mindestens bi- oder homosexuell. Aber trotzdem hätte ich keinem Internet-Kollektiv eine derart sensible Natur zugetraut. Denn, ja: Der Film ist brillant. Aber nein: Das wird nicht jeder nachvollziehen.

Zunächst einmal ist Regisseur Luca Guadagnino der ultimative Mann für das Drehen von Sonnenschein – ein Talent, das bereits in I Am Love aufblitzte. Das helle Licht und der grell-gelbe Farbstich stechen ungemein hervor und lassen einen bereits in den ersten Szenen von einem Biss in die frisch gereiften Orangen träumen, die an den sattgrünen Bäumen hängen. Nahezu jede Einstellung strahlt Sonne, Wärme und Leben in höchster Konzentration aus. Deshalb wäre eine Nominierung für die Kameraarbeit Pflicht gewesen (böse Academy!).

Der Duft nach Sommer und Urlaub geht Hand in Hand mit den freien Oberkörpern von Elio (gespielt von Timothee Chamalet) und Oliver (Armie Hammer). Die werden einem bereits nach fünf Minuten regelrecht aufgezwängt, nur dass es im Gegensatz zu solch Machwerken wie der Twilight-Saga passt – schlichtweg weil das Klima die entsprechende Wärme vermittelt.

So sitzt man dann schon als hetereosexueller Kerl leicht Unwohl in seinem Sessel und schaut sich Szene für Szene an, wie sowohl Chamalet als auch Hammer ihre nackte Haut zur Schau stellen. Andersherum sieht man von den Frauen so gut wie nichts – die sind fast durchweg im Kleid unterwegs und nur einmal “darf” man auf die Unterwäsche eines Teenie-Mädchens schielen.

Diese klare Trennung ist bitter notwendig, um einen auf die tiefergehende Romanze zwischen Elio und Oliver vorzubereiten. Denn sobald die richtig losgeht, ist man bereits mittendrin in der gleichgeschlechtlichen Liebe. Guadagnino tut gut daran, bei den Sexszenen dezent zur Seite zu schwenken. Unabhängig davon, ob nicht spätestens dann doch alle Hetero-Männer vor Scham im Boden versinken: Alles andere wäre Fehl am Platz, weil es letztlich auf Liebe und nicht auf Sex ankommt.

Dafür spielt Guadagnino massig mit mehr als offensichtlichen Symbolen, egal ob es nackte antike Statuen oder ein rauschender Wasserfall sind. Auch das passt und ist wichtig, weil der Film die sexuelle Entwicklung Elios zeigt. Und der Junge probiert natürlich die eine oder andere verrückte Sache aus, so wie es eben jeder Jugendliche tut. Nach dem Film wird man jedenfalls Pfirsiche mit ganz anderen Augen sehen…

Das Drehbuch stammt von dem großen James Ivory, der in den 1980er bis 1990er Jahren als Regisseur bekannt war und mit A Room with a Viewm Howards End sowie The Remains of the Day immerhin drei Oscar-Nominierungen abgestaubt hat. Gewonnen hat er nie, was sich aber an diesem Wochenende ändern wird. Er wäre mit 89 Jahren (!) der mit Abstand älteste Gewinner eines Oscars (Ehrenauszeichnungen nicht eingeschlossen) und es wäre auch hochverdient.

Denn was ich der Geschichte enorm hoch anrechne: Es gibt keinen Bösewicht. Ja, eigentlich gibt es nicht mal einen vom Streit geprägten Konflikt – jedenfalls keinen mit schwerwiegenden Konsequenzen. Und trotzdem ist die Geschichte fesselnd, weil die Liebe zwischen Elio und Oliver so ehrlich und mitfühlend geschrieben ist. Mehr noch: Ohne greifbaren Antagonisten kann sie sich voll und ganz auf die Beziehung der beiden konzentrieren.

Aus dem Grund möchte ich den Film präventiv gegen jede Verurteilung verteidigen, die Elios Minderjährigkeit betrifft. Ja, sein Charakter ist 17 – aber der von Oliver gerade mal 24. Abseits davon, dass diese Alterskonstellation in den meisten Ländern dieser Erde sowohl moralisch als auch juristisch kein Problem darstellt, ist Geschichte weit von einer Verführung entfernt. Die Annährung der beiden Charaktere ist vielmehr sehr natürlich und durchläuft von beiden Seiten genau die richtigen Schritte. Unterstützt wird dies durch einen hervorragenden Cast, der natürlich vor allem von dem Oscar-nominierten Timothée Chalamet geprägt ist.

Was auch nicht in Vergessenheit geraten darf, ist das wunderschön komponierte, arrangierte und getextete Lied Mystery of Love von Surfjan Stevens. Es ist für mich ein Rätsel, wieso es nicht mit himmelweitem Abstand der Favorit für den Best-Original-Song-Oscar ist: Es trifft einen voll ins Herz und begleitet einen weit über den Film hinaus. Zwar wird es in der Schlüsselszene brutal unterbrochen, was aber zum danach verlaufenden Tonfall der Geschichte gehört.

Abschließend finde ich es erstaunlich, dass mit Call Me by Your Name erneut ein Liebesfilm über Homosexuelle derart gelingt. Vielleicht sollten sich die Heterosexuellen unter uns fragen, was wir zum Teufel noch mal falsch machen…

Oscar-Nominierungen: Bester Film, Bester Hauptdarsteller (Timothée Chalamet), Bestes adaptiertes Drehbuch, Bester Song (Mystery of Love).