Und wenn einem Indie-Regisseur nichts besseres einfällt, dann macht er einen Coming-of-Age-Film. Was gibt es schon einfacheres und zugleich persönlicheres, als sein eigenes Leben zu verfilmen? Das Problem an der Idee ist der Trugschluss, dass das eigene Schicksal komprimiert auf unter zwei Stunden interessant sein könnte. Deshalb sind solche Werke auch nicht für jedermann geeignet. Es braucht schon ein sehr besonderes Talent, um mit solch einem generischen Konzept einen wirklich beeindruckend Film zu schaffen.
Lady Bird ist ein klassisch-rebellisches Teenager-Mädchen, das zu Beginn der Jahrtausendwende vor ihrem High-School-Abschluss steht. Ihren gebürtigen Namen Christine lehnt sie genauso ab wie die Wertevorstellung ihrer Mutter Marion. Diese sieht nämlich die Wünsche ihrer Tochter, nach der Schule wegzuziehen und ein kostspieliges College zu besuchen, mit viel Argwohn und erinnert sie lieber Tagein, Tagaus an die finanzielle Situation ihrer Familie. Die meisten Streitereien entstehen durch eine extrem unterschiedliche Auffassungsgabe, welcher Weg für Lady Bird der richtige sei. Vater Larry wiederum würde gerne mehr für seine Tochter machen und ihr unter die Arme greifen, ist aber sichtlich kraftlos aufgrund seiner eigenen Sorgen.
Die letzten Monate ihres High-School-Lebens verbringt Lady Bird abseits der Schule mit ihrer leicht pummelig-schüchternen Freundin Julie und ihrem zunehmenden Interesse für Jungs. Im Laufe der Geschichte führt sie zunächst mit dem erzkonservativ erzogenen Danny und später dem eher alterntiv-leichtlebigen Kyle eine Beziehung, die jeweils aus völlig unterschiedlichen Gründen zu Bruch gehen. Geprägt von den Stolpersteinen des Lebens, sucht Lady Bird nach ihrem eigenen Weg und lernt zunehmend, dass nicht immer alles so ist wie es auf den ersten Blick erscheint.
So weit, so langweilig: Wer nach dieser Zusammenfassung ein ernsthaftes Interesse an dem Film Lady Bird hat, der ist ein Indie-Liebhaber durch und durch. Den gesamten Plot gibt es schon in hundertfacher Form und am Ende wartet auch keine originelle Überraschung auf den Zuschauer. Die Geschichte verläuft ziemlich genau so, wie man sich das von so einem Film wie Lady Bird vorstellt.
Und nachdem das klar gestellt wurde, kommt nun der schwere Part meiner Kritik: Zu erklären warum dieser Film ein Meisterwerk ist.
Zunächst einmal passt alles. Regisseurin Greta Gerwig, die ihr eigene Jugenderfahrung mit ihrer Mutter als Grundgerüst für ihr Drehbuch genommen hat, zeigt genau die richtigen Szenen vor der richtigen Kulisse und mit den richtigen Darstellern. Wenn etwas störend herausragt, dann vielleicht der eine oder andere sprunghafte Schnitt. Aber ansonsten konzentriert sich Gerwig auf das Nötigste und lenkt uns mit keinerlei Schnickschnack ab. Musik, Kulisse und Kamera sind damit genauso bodenständig wie erfolgreich.
Der Film Lady Bird wirkt sehr authentisch, was für einen Indie-Film zunächst nichts ungewöhnliches ist. Jedoch addiert sich diese Natürlichkeit genau in den richtigen Ecken mit einem bemerkenswerten Perfektionismus. Dieser hat zwei Namen: Saoirse Ronan als Lady
Bird und Laurie Metcalf als deren Mutter.
Die beiden sind schon jeweils für sich betrachtet ein echter Genuss, weil sie ihre Rollen derart lebensnah gestalten. Doch wenn die beiden miteinander oder besser gesagt gegeneinander agieren, dann gibt es kein halten mehr. Ähnlich wie Emma Stone im Jahr zuvor in La La Land bewirken sie mit simplen Gestiken und leichten Stimmveränderungen Großartiges. Unterm Strich empfinde ich Ronan als etwas runder und stimmiger im Gesamtkontext, während Metcalf eher aufgrund einzelner Highlights hervor sticht. Beide sind in jedem Fall Oscar-würdig.
Je länger der Film voranschreitet, desto mehr zeigt Greta Gerwig ihr Talent als Autorin und Regisseurin. Man spürt regelrecht, wie sie im Laufe von gerade mal 90 Minuten dazulernt und am Ende eine starke Inszenierung nach der anderen ausspielt. Sie nimmt alltägliche Klischees und macht sie zu etwas Besonderem. Erneut ist dies nur deshalb möglich, weil Gerwig niemals über- oder untertreibt. Kein Wort ist zu viel und keine Szene zu kurz. Der ganze Film liegt durchweg auf genau der richtigen Wellenlänge.
Gerwigs Regie ist gut vergleichbar mit der von Jason Reitman für Juno oder Robert Bentons Kramer gegen Kramer: Eigentlich möchte man meinen, dass solche Filme nicht schwer zu stemmen sind. Aber wenn man sich ähnlich konzipierte Werke anschaut, dann spürt man: Gerade bei den einfachen Geschichten ist es so leicht etwas falsch zu machen. Doch genau wie Reitman vor gut zehn Jahren oder Benton anno 1979, macht Gerwig einfach nichts falsch.
Ebenfalls interessant: Lady Bird ist weder Drama noch Komödie, weil es Gerwig gar nicht um diese Art von Klassifizierung geht. Drehbuch und Regie sind mal ernst und mal lustig, je nachdem wenn es die Geschichte verlangt. Das wiederum vermittelt das Gefühl der Ehrlichkeit – etwas, was in Hollywood eigentlich gar nicht existieren darf.
Das ist wohl auch der Grund, warum der Film laut Rottentomatoes nur zwei schlechte Kritiken (von über zweihundert!) eingesteckt hat: Man kann Lady Bird nichts vorwerfen, außer vielleicht, dass der Plot im Grunde nichts Neues zeigt. Aber das wird durch die beschriebene Ehrlichkeit ausgeglichen, die den Film zu einem der Glaubwürdigsten seiner Art macht. Und weil Gerwig es darüber hinaus schafft, dass wir uns für ihre aus ihrem eigenen Leben inspirierten Geschichten interessieren, steht am Ende ein Meisterwerk auf der Leinwand.
Anmerkung: Der Film ist ab heute im amerikanische Itunes-Store erhältlich und ab dem 6. März auf DVD (ebenfalls in den USA). Allerdings ist der deutsche Kinostart erst am 19.April.
Oscar-Nominierungen: Bester Film, Beste Regie, Bestes Drehbuch, Beste Hauptdarstellerin (Saoirse Ronan), Beste Nebendarstellerin (Laurie Metcalf).