Paul Thomas Anderson gehörte für mich zu den „Unantastbaren“. Boogie Nights, Magnolia, Punch-Drunk-Love und There Will Be Blood gehören meines Erachtens zu den besten Filmes ihres jeweiligen Jahrgangs. Diese Serie riss jedoch brutalst mit The Master sowie Inherent Vice – zwei persönliche Enttäuschungen, mit denen ich kaum etwas anfangen konnte. Weder thematisch noch von der Inszenierung her sah ich das Besondere oder das Interessante. In beiden Filmen suchte ich verzweifelt den Paul Thomas Anderson, der für mich als unfehlbar galt.
Wir befinden uns in dern 1950er Jahren: Reynolds Woodcock ist ein renommierter Modedesigner und entwirft für die High Society allerlei Kleider für besondere Festlichkeiten, (beispielsweise Hochzeiten). Seine Arbeit gelingt ihm vor allem aufgrund seines Perfektionismusses und seines akribisch geplanten Tagesrhythmus, weshalb er sogar diverse Königshäuser bedient.
Reynolds ist unverheiratet und führt lieber kurz anhaltende Beziehungen mit jüngeren Frauen. In einem Restaurant lernt er die Kellnerin Alma kennen, die nicht mal halb so alt ist wie er. Bereits bei der ersten Begegnung entsteht ein beiderseitiges Interesse, weshalb sie sich zu einem Date verabreden. Danach dauert es nicht lange, bis Alma in Reynolds Haus einzieht und ihm bei der Arbeit hilft.
Während Reynolds Gefühlswelt gerade zu Beginn des Filmes schwer zu durchschauen ist, gleicht Alma einem offenen Buch. Sie lässt sich von seiner Art wieder und wieder gängeln und nimmt auch den Einfluss seiner dominanten Schwster Cyril in Kauf, die noch mehr auf den glatt gebügelten Vorgang der Arbeit fixiert zu sein scheint wie er. Erst mit der Zeit versucht Alma sich zu entfalten und Reynolds aus seinem starren Lebensmuster herauszuziehen.
Bis zu diesem Zeitpunkt fühlt sich Paul Thomas Andersons neuester Film Der seidene Faden (auf Englisch Phantom Thread) wie ein konventionelles Kostüm- und Liebesdrama an. Da ist auf der einen Seite der alte, versierte und seinen Pflichten verschriebene Reynolds und auf der anderen Seite die junge, unerfahrene und leicht manipulierbare Alma. Doch ab einem ganz bestimmten Zeitpunkt kippt das Verhältnis und Anderson driftet seinen Film in eine ganz andere Richtung. Und auch diese ist letztlich eine Finte, denn das Ende wird vermutlich sehr viele überraschen. Vielleicht weniger von dem, was passiert, als der moralitsche Tonfall, der einem mitgegeben wird.
Was mir ebenfalls sehr stark auffällt: Während zu Beginn ganz klar Reynolds die zentrale Figur des Filmes verkörpert, driftet der Fokus immer mehr in Richtung Alma. Hier zeigt sich Andersons großes Talent, der seine Filme regelrecht fließend konzipiert sowie umsetzt. Trotz diverser Zeitsprünge wirkt nichts hektisch oder gar gesprungen. Alles entwickelt sich vollkommen natürlich, wobei ihm die ständig im Hintergrund klimpernde und zurecht für einen Oscar nominierte Klaviermusik von Jonny Greenwood hilft.
Des Weiteren schafft Anderson eine tolle Atmosphäre, gleichwohl mich diese eher an die 1930er anstatt 1950er Jahre erinnert. Die gedeckten Farben, das selbst für einen Modedesigner eher karg eingerichtete Haus und die wenigen Landschaftsaufnahmen sind weniger bombastisch und dafür sehr stilvoll. Zu den Ausnahmen gehören diverse Feierlichkeiten, in denen Reynolds und Alma ihrer reichen Kundschaft beiwohnen – und dessen Prunk auch bewusst einen Kontrast zu den Hauptcharakteren sein soll. Sie wirken deshalb viel zufriedener und ausgeglichener mit ihrem Leben, trotz einiger zum Teil sehr fragwürdigen Eigenheiten und den unvermeidlichen Konflikten, die den Film interessant halten.
Paul Thomas Anderson gelingt somit eine meisterhafte Gratwanderung: Auf der einen Seite sehen wir Verhalten und Taten, die wir uns von unseren engsten Freunden und Verwandten nie und nimmer wünschen möchten. Auf der anderen Seite hoffen wir das beste für Reynolds, Alma und auch Cyril. Wir möchten, dass sich die drei mit dem gut fühlen, was sie tun und wie sie miteinander leben.
Ein wesentlicher Punkt für den Erfolg des Filmes sind die Schauspieler, allen voran Daniel Day-Lewis als Reynolds Woodcock. Nur er ist in der Lage einen so schwierigen Charakter mit all seinen Facetten so perfekt zu machen. Vicky Krieps als Alma gefiel mir zunächst überhaupt nicht und war mir einfach zu bieder. Erst im Laufe der Geschichte stellt man fest: Das ist so gewollt und wichtig für die Entwicklung ihrer Figur. Und Lesley Manville als Cyril ist ein hervorragender Sidekick, mit der Betonung auf „Kick“. Ihre Darstellung ist weniger nuanciert und dafür stets im richtigen Moment genau der Stich von der Seite, den die Geschichte benötigt. Bei ihr hat es mich am meisten überrascht, dass sie am Ende keine typische Antagonistenrolle einnimmt – was nämlich so gut wie jeder andere Regisseur gemacht hätte.
Phantom Thread war die große Überraschung bei der Bekanntgabe der Oscar-Nominierungen. Viele hatten eine Erwähnung für die Kostüme und für Daniel Day-Lewis erwartet, der angeblich nun in den Ruhestand geht. Fans von Greenwood hofften auf seine erste Nominierung für die Filmmusik. Wenige Tage zuvor mutmaßte der eine oder andere Experte, dass Lesley Manville in der Kategorie für die beste Nebendarstellerin Einzug finden könnte. Aber das am Ende eine Nominierung für den besten Film und sogar für die beste Regieleistung herausspringt – damit hatte so gut wie niemand gerechnet.
In der Tat ist es erst Andersons zweiter Film, der in den beiden höchsten Kategorien honoriert werden könnte. Dafür ist er ausgerechnet in seiner Paradedisziplin, nämlich für sein Drehbuch, nicht dabei. Jedoch ist diese Kategorie in diesem Jahr extrem vollgepackt – und es ist wie gesagt ein Wunder, dass Anderson einen der hoch gehandelten Regisseure (Martin McDonagh für Three Billboards Outside Ebbing, Missouri) rausgekickt hat.
Noch habe ich nicht alle nominierten Filme gesehen, weshalb ich nicht wirklich von verdient oder unverdient reden kann. Aber für sich betrachtet geht das Oscar-Ergebnis vollkommen in Ordnung. Phantom Thread ist auf den ersten Blick ein sehr gewöhnlicher Film mit einer auf dem Papier eher uninteressanten Handlung, der durch seine hervorragend durchdachte Inszenierung funktioniert und am Ende sogar regelrecht überrascht.
Anders ausgedrückt: Ich habe meinen Paul Thomas Anderson wieder!
Oscar-Nominierungen: Bester Film, Beste Regie, Bester Hauptdarsteller (Daniel Day-Lewis), Beste Nebendarstellerin (Lesley Manville), Beste Kostüme, Beste Musik.