Get Out

Am 25. März 1991 kündigte Billy Crystal während der 63sten Oscar-Verleihung Jodie Foster und Anthony Hopkins an, um einen Preis zu verleihen. Dabei bemerkte Crystal, dass beide wohl nächstes Jahr für ihre Leistung in Das Schweigen der Lämmer nominiert werden würden – was sich nicht nur bewahrheitete, sondern auch in zwei Siegen plus einem Best-Picture-Durchmarsch resultierte.

Der Grund, warum Billy Crystal diese kühne Vorhersage treffen konnte: Das Schweigen der Lämmer lief bereits im Februar in den Kinos, also einen Monat vor der besagten Oscar-Verleihung, die eigentlich das Jahr zuvor auszeichnet. Dabei haben Filme mit einem so frühen Release-Termin kaum eine Chance auf eine Nominierung. Nehmen wir noch den Umstand hinzu, dass Das Schweigen der Lämmer im Kern ein Horrorfilm ist, und die Anomalie ist perfekt.

Chris Washington und Rose Armitage sind ein junges, verliebtes Pärchen. Eigentlich nichts besonderes – und heutzutage stört es doch auch niemanden mehr, wenn er eine schwarze und sie eine weiße Hautfarbe hat. Oder? Und was sollte also so schlimm daran sein, wenn beide zu ihrem Heimatort fahren und er ihre Eltern kennenlernt?

Chris ist trotzdem skeptisch, ob der Besuch eine so gute Idee sei. Zu unberechenbar sind die Erfahrungen, die er bislang mit Weißen gemacht hat – was wenn ausgerechnet die Eltern seiner Freundin gegen ihn sind, nur weil er Schwarz ist? In seinen Gedanken kreist die Angst vor einem unerwarteten Konfllikt, dem vielleicht er, aber nicht sie gewachsen ist. Sein bester Freund Rod warnt ihn gar ausdrücklich und schwadroniert von irgendwelchen Verschwörungstheorien. Aber weil Rose drängt und die Beziehung mit ihr recht gut läuft, willigt er letztlich ein.

Vor Ort wird Chris wohlwollend empfangen, allerdings nicht ohne peinliche Zwischenfälle. Sprüche wie „Ich hätte Obama auch ein drittes Mal gewählt, wenn ich gedurft hätte“ offenbaren ein verqueres Denken, dass im Grunde nichts anderes als freundlich gesinnter Rassismus ist. Ebenfalls unschön: Auf der Hinfahrt wird das Paar von einem Polizisten angehalten. Und obwohl Rose hinter dem Steuer sitzt, soll Chris seine Papiere vorzeigen.

Es ist nicht so, dass Chris mit all dem ein ernsthaftes Problem hat. Er kennt die Welt und weiß ganz genau, dass Schwarze noch lange nicht gleich behandelt werden wie Weiße. Die meisten Vorfälle lächelt er verlegen weg – doch was ihn tatsächlich stört, dass ist das Verhalten seiner „Brüder“ und „Schwestern“ vor Ort. Egal ob Gärtner, Haushälterin oder Nachbar: Alle afroamerikanischen Bewohner der Stadt grinsen debil, sind auffallend freundlich und benehmen sich überhaupt nicht so, wie Chris es von seinen „Eigenen“ gewohnt ist.

Die merkwürdigen Vorkommnisse häufen sich und gipfeln während einer Gartenparty, bei der einer der schwarzen Nachbarn von einem Fotoblitz geblendet wird. Sein Gesichtsausdruck verändert sich, und gefriert zur Panik. Er geht direkt zu Chris und wiederholt nur zwei Worte: „Get Out!“… bis er sich kurz darauf wieder fängt und sein friedlich-debiles Verhalten von zuvor zum Vorschein kommt.

Get Out ist ein Meilenstein der Film- und Erzählkunst durch und durch. Er ist hochgradig clever und spielt auf abenteuerliche Weise mit alten sowie neuen Elementen. Was Regisseur und Autor Jordan Peele hier für eine Genre-Gratwanderung begeht, sucht seinesgleichen. Allein diese Frage: Was ist Get Out? Ein Horrorfilm? Ein Thriller? Eine Komödie, wie es für die Golden Globes klassifiziert wurde? Oder gar eine Art Dokumentation, wie Peele selbst scherzhaft sagt, die zynisch den Post-Obama-Rassismus aufzeigt?

Jordan Peele nutzt gnadenlos die Hautfarbe seines Protagonisten und haut dem Zuschauer einen Holzhammer nach dem anderen auf den Kopf, der ihm zeigen soll: Es ist noch so ein verdammt weiter weg bis zur Gleichberechtigung. Wohlgemerkt gilt das bereits für die erste Hälfte des Filmes, in der die Bewohner der Stadt bereits die Oberflächlichkeit in Person sind, die mit ihren dummen Sprüchen angeben wollen und sich dabei nur bloß stellen.

Während Weiße den Film eher ernst nehmen und sowohl die Nebendarsteller der Geschichte als auch sich selbst in Frage stellen, lachen sich Schwarze halb kaputt – einfach weil sie jene für Unwissende grotesk erscheinenden Situationen komplett nachempfinden können und vielleicht gar selbst erlebt haben.

Get Out hat gleich zwei Twists auf Lager, von denen mich der eine gestört hat (weil er zu offensichtlich ist) und der andere einfach so unbeschreiblich bizarr daherkommt, dass man ihn einfach lieben muss. Aber um ehrlich zu sein ist es gar nicht mal so sehr das Drehbuch, dass mir derart gefällt und von vielen als das Highlight des Filmes angesehen wird: Es ist Peeles Regieleistung, die für ein paar unbeschreiblich gut gemachte Schlüsselszenen sorgt.

Aus Spoiler-Gründen rede ich etwas um den heißen Brei – aber wer den Film bereits gesehen hat, der wird sicherlich etwas mit den Stichwörtern Sunken Place und Hände hoch anfangen können. Da stimmt alles: Kamera, Schnitt, Schauspieler, Atmosphäre, Farben, Licht, Blickwinkel, Ton, etc. Peele macht aus einfachen Momenten unvergessliche Kinominuten, weil alles bis ins Kleinste durchdacht und doch niemals verkrampft wirkt. Er kombiniert total simple, natürliche Ideen mit grotesken Plotauswüchsen zu einer homogenen Einheit.

So sehr ich mich über die Oscar-Nominierungen für Film, Regie, Drehbuch und Daniel Kaluuya als besten Hauptdarsteller freue, so unbegreiflich ist aus meiner Sicht, wieso nicht mehr herausgesprungen ist. Der Film hätte mindestens eine Erwähnung für den Schnitt, beide Tonkategorien (ich sage nur Löffel und Tasse) und Catherine Keener für ihre Rolle als Roses Mutter verdient gehabt.

Aber ich will nicht undankbar sein, denn selbst die Nominierung von Jordan Peele als Regisseur war nicht sicher und hat mir bereits jetzt die diesjährige Oscar-Verleihung perfekt gemacht. Ich weiß, dass er nicht gewinnen wird – es ist bereits so selten, dass ein im Februar veröffentlichter Horrorfilm überhaupt in dieser Form bei den Academy Awards berücksichtigt wird.

Was den Film an sich anbelangt… also, ich möchte nicht träumen. Nicht wirklich. Aber… es gibt in der Tat diese eine Möglichkeit, das Get Out allen Ernstes den Oscar für Best Picture und Best Screenplay gewinnt. Dazu muss alles andere stimmen: Three Billboards Outside Ebbing, Missouri muss so umstritten sein, wie es viele Oscarwatcher vermuten. The Shape of Water muss an seinem Genre zerschellen und aufgrund der fehlenden Screen-Actor-Nominierung für das beste Schauspielerensemble scheitern. Lady Bird darf nicht durch die #MeToo-Welle zur Überholspur übergehen. Und das Genre von Dunkirk muss in der Tat für die Academy so ausgelutscht sein, weshalb sie solch einen Film nicht noch einmal honorieren möchten.

Get Out muss dagegen genau das halten, was es seit fast einem Jahr erreicht hat: in Erinnerung bleiben. Er ist mehr als ein Horrorfilm und genau die Art von Gesellschaftskritik, die derzeit von der Academy geliebt wird. Wie Oscarbloggerin Sasha Stone treffend auf ihrem Blog Awardsdaily feststellt, muss es einen Grund geben, warum ausgerechnet dieser Film nach all der Zeit noch derart im Gespräch ist. Die Tatsache, dass er tatsächlich den Sprung ins Best-Picture-Feld geschafft hat, ist ein eindeutiges Zeichen. Fragt Das Schweigen der Lämmer.

Oscar-Nominierungen: Bester Film, Beste Regie, Bestes Drehbuch Bester Hauptdarsteller (Daniel Kaluuya).