Es ist fast ein halbes Jahr her, als ich mir im hiesigen Alternate die HTC Vive leistete – einerseits aufgrund des damaligen Angebotes, weshalb mich das gute Stück 800 anstatt 900 Euro kostetet, und andererseits aus meiner Sammelgier, alle tollen Spiele dieser Welt haben zu müssen.
Eine Hardware ist für mich seit eh und je Mittel zum Zweck, weshalb ich mich nie so wirklich an einem Computer- oder Konsolenkrieg beteiligen konnte. Selbst im Kindesalter, wo ich mir „nur“ einen C64 und „nur“ einen Amiga leisten durfte, schielte ich mehr neidisch ins Schneider-CPC- oder Atari-ST-Lager – schlicht weil es für deren Systeme exklusive Spiele gab, die mir verwehrt blieben.
Heutzutage ist die Lust nach einer neuen Konsole dem Ärger für die damit verbundenen Kosten gewichen. Allein der Grafiksprung von PlayStation 3/Xbox 360 zu PlayStation 4/Xbox One ist in meinen Augen derart marginal, weshalb ich mir bislang gar die PS4 Pro Variante verkniffen und kein Bock auf die Scorpion habe. Wozu auch? Bislang laufen alle Spiele ordentlich bis einwandfrei auch auf dem alten Gerät…
Noch etwas anders formuliert: Die letzte Hardware, die ich mir mit Freuden leistete, war mein iPad – was mehr dem Gefühl über ein neues, technisches Gimmick glich, weil ja alle darauf gegebenen Spiele theoretisch auch auf einem Standard-PC machbar sind.
Warum habe ich mir die HTC Vive vor fast einem halben Jahr geleistet und sie erst letzte Woche (!) installiert? Zum einen gab es unerwartete Probleme mit meinen gegebenen Räumlichkeiten. Mein Wohn- und zugleich Arbeitszimmer, das extra für die VIVE hergerichtet wurde, ist nämlich… zu groß! Für die Nutzung der VIVE müsst ihr zwei Sensoren in gegenüberliegenden Ecken anbringen, deren Abstand nicht mehr als fünf Meter betragen darf. Zwar wäre das durchaus bei mir möglich, jedoch hätte ich mich dann auf eine länglich-rechteckige anstatt die von mir gewünschte quadratische Form beschränken müssen.
Die Suche nach einer Lösung glich einer Tortur: Stative, an denen die Sensoren angebracht werden könnten, kamen nicht in Frage, weil diese bei der Nutzung der VIVE leicht vibrieren und entsprechend für Störungen sorgen – zudem die Teile möglichst hoch im Raum liegen sollten. Vielleicht einen Holzklotz an die Decke schrauben? Da wäre die Angst zu groß, dass der auf Dauer nicht hält und mitsamt Sensor mehr als zwei Meter in die Tiefe fliegt.
Die beste Idee erblickte ich in einem Forum, in dem ein findiger Bastler von seiner Deckenstütze mitsamt Kamerahalterung schwärmte. Das Problem: Letztere gibt es in passender Form nur in Fernost, mit einer Lieferungszeit von knapp einem Monat. So lange wollte ich nicht warten, weshalb ich sie nicht bestellte. Es blieb die Hoffnung aufrecht, eine andere, schnellere Lösung zu finden… Woche um Woche, Monat für Monat. Mitte Februar wurde mir meine eigene Idiotie zu dumm, weshalb ich die Halterung dann doch orderte.
Danach steckte ich mitten in der Arbeit, weshalb ich nach Ankunft der Halterung immer noch nicht mit dem VIVE-Spaß anfangen konnte. Klar… ich hätte es ja mal ausprobieren können. Aber was, wenn’s mir so gut gefällt und meine Arbeitsmoral dahin ist….?
Und damit sind wir beim dritten und zentralen Punkt, weshalb ich fast ein halbes Jahr von Kauf bis Start brauchte: die Angst. Was, wenn ich dadurch noch mehr versumpfe? Was, wenn mir schlecht wird? Was, wenn ich Kopfschmerzen kriege? Und am allerschlimmsten: Was, wenn es mir nicht gefällt…?
Was, wenn ich wieder enttäuscht bin und mir einfach nur die nächste Hardware als Gimmick gekauft habe?
Am 12. April 2017 ist etwas geschehen, was ich nicht mehr für möglich gehalten hätte: der „Woah!“-Faktor. Den hatte ich aufgrund einer neuen Hardware zuletzt bei der ersten PlayStation, ergo vor über zwanzig (!) Jahren. Da war ich noch ein Teenager…
Der „Woah!“-Faktor trat nicht gleich beim ersten Spiel ein – und auch nicht beim zweiten. Nein, es war nicht einmal ein Spiel, das für den „Woah!“-Faktor sorgte, sondern eine schlichte, virtuelle Umgebung mit dem Namen NewRetroArcade: Neon.
Sobald ihr die Anwendung startet, steht ihr vor einem Spielautomaten. Ihr müsst zu ihm gehen, die Lasergun aus der Halterung nehmen und damit auf eine der Optionen schießen, die auf dem Bildschirm zu sehen sind. Danach landet ihr in einer simulierten Spielhalle, in der zahlreiche Arcade-Automaten, Tische und Kneipen gerechte Anlagen stehen – darunter eine kleine Kegelbahn, eine Dartscheibe oder ein Skeeball-Tisch.
Obwohl die Sicht leicht verwaschen und die Dinge nicht wirklich real sind: Ich fühlte mich sofort wie in einer anderen Welt. Die Illusion, tatsächlich in einer mit Neonröhren bespickten Spielhölle zu stehen, ist beängstigend. Und noch mehr: Mit den beiden Controllern nehme ich einen Gameboy, der auf dem Tisch liegt. Ich halte die untere Taste gedrückt, um zu greifen, und ziehe den virtuellen Handheld direkt vor meine Nase. Das Gefühl, ihn von allen Seiten anschauen zu können? Unbeschreiblich.
Ich kehre zurück zu den ersten beiden Spielen, die ich zuvor gemeinsam mit einem Freund ausprobierte: Audioshield und Windlands. Ersteres ist eine VR-Variante von Audiosurf, nur dass ihr hier mit euren Händen zwei Schilde haltet und im Takt zur Musik auf euch zu fliegende Bälle abwehrt. Der Effekt ist bei schnellen Trance-Stücken etwas enttäuschend und dafür unter orchestraler Wucht von Sam Dillard bis Hans Zimmer ganz großes Kino.
Windlands wiederum versetzt euch in eine fremde Welt voller kleiner, schwebender Inseln, in denen ihr nach Kristallen sucht. Es ist meine erste Begegnung mit der größten Hürde, die uns die derzeitige VR-Technologie beschert: Ich möchte einerseits frei umher laufen, was aber andererseits aufgrund der in meinem Zimmer festgesteckten Grenzen nicht möglich ist. Derzeit gibt es nur zwei befriedigende Lösungen für das Problem: Entweder ihr marschiert klassisch per Steuerkreuz oder ihr teleportiert euch von Punkt zu Punkt.
Die erste Variante klingt offensichtlich und ist doch nicht ohne. Denn das eigene Gehirn kommt nicht sogleich mit, wenn man sich bewegt ohne sich zu bewegen. Die erste halbe Stunde ist von leichtem Schwindel untermauert, jedoch ohne Kopfschmerzen. Es fühlt sich eher so an, als ob ich meinen Halt verliere.
Doch Windlands stellt euren Motion Sickness Level noch viel derber auf die Probe, weil ihr nämlich mit zwei Schwunghaken (!) von Insel zu Insel hechtet. Erstaunlicherweise kommt mein Hirn damit besser zurecht als mit der Lauferei – jedenfalls musste ich nur zu Beginn die Augen mit jedem Schwung schließen. Nicht mal eine Stunde später hangele ich mich fließend von Insel zu Insel, hänge frei in der Luft und beobachte in Ruhe meine Umgebung nach dem nächsten Zielort.
Der besagte Freund macht eine ähnliche Erfahrung wie ich, verfehlt jedoch eine Erkenntnis, die ich erst nach längerem Spielen beobachte. Denn zunächst fluchen wir am meisten über die schwammige Sprungsteuerung, bei der wir ständig daneben hüpfen. Doch dann fällt mir speziell bei weiten Sprüngen auf, dass ihr eure Landung in Windlands auf eine sensationell intuitive Weise lenkt: Ihr müsst einfach nur dorthin schauen, wo ihr landen möchtet!
Zwei Tage später und viele weitere Stunden, die ich vor allem mit Audioshield verbringe, kommt der nächste Pulk an Freunden ins Haus. Ich wiederhole mit ihnen meine eigenen Erfahrungen und führe sie zunächst mit NeonRetro Arcade in die virtuelle Welt ein. Danach kommt Windlands zum Zuge – und der Fesselfaktor übermannt sogleich jeden.
Am Tag darauf habe ich wieder Besuch und diesmal probieren wir etwas Neues aus: Vanishing Realms, quasi ein Skyrim-light. Die Welt sicherlich klein und auch nach Stunden begegnen wir gerade mal vier Gegnertypen. Aber bei Gott, allein diese Bogenkämpfe! Ihr seht von Weitem einen Schützen und duckt euch instinktiv vor einem Stein, damit er euch nicht trifft. Ihr spannt mit euren Händen euren Bogen, steht auf, geht einen Schritt zur Seite und zielt. Ihr bleibt stehen, zielt erneut, der Pfeil des Gegners huscht zu euch und ihr geht ruckartig den Schritt zur Seite zurück. Spätestens hier versagt jeder Vergleich mit der Wii, deren Bewegungstechnologie in der Tat zu einem Gimmick verkam.
Es ist sowohl für Außenstehende als auch für den Spieler hinter der VR-Brille ein bahnbrechendes Schauspiel. Vanishing Realms pulverisiert das Argument, VR-Programme können keine ausgewachsenen Produkte sein. Natürlich dürfte es schwer fallen, ein Kaliber á la Skyrim oder Witcher 3 in dieser Form zu spielen – allein schon, weil das Kämpfen körperliche Anstrengung bedeutet. Aber es lohnt sich ungemein, weil mich bereits jetzt das riesengroße Potenzial der derzeit verfügbaren VR-Technologie erschlägt: der Reiz des Entdeckens.
Wir haben Vanishing Realms abwechselnd zu dritt gespielt und uns in jedem Raum bestimmt zehnmal so lange aufgehalten, wie in einem gewöhnlichen Rollenspiel. Da musste jeder Stein umgedreht und jeder Goldfelsen zerhackt werden. Die HTC Vive holt aus „einfachen“ Spielen so viel mehr heraus, weil das Feeling einfach atemberaubend ist. Nebenbei greift hier die andere Steuerungsmethode mit dem Teleportieren, die ebenfalls erstaunlich stimmig ist und jedes Schwindelgefühl von vorneherein ausschließt.
All das erinnert mich sehr an die Faszination alter Computersysteme, in denen jeder neue technologische Fortschritt als „Woah!“-Faktor gefeiert wurde. Jahrelange habe ich gemosert, dass der Zenit erreicht ist: Die Technologie kann kaum noch besser werden, weil wir bereits jetzt nahezu fotorealistische Grafiken auf dem Bildschirm sehen. Die Faszination des Neuen, zumindest aus technischer Sicht, sei auf ewig dahin.
Mit der HTC VIVE ist diese Sorge vergessen. Gerade weil die Technologie nicht perfekt ist, ist all das, was funktioniert, ein unvergessliches Highlight. Zudem ist für mich jetzt wieder diese Hoffnung vorhanden, dass die Techniker und Computerjunkies dieser Welt sich Stück für Stück neue Features ausdenken. Wie kann man dem Spieler vorgaukeln, dass er richtig laufen kann, ohne sich im Raum zu bewegen? Wie könnte man ihn mit Berührungen virtueller Gegenstände überraschen? Inwiefern sollte die Realität außen vor bleiben, damit niemand vor Erschöpfung oder gar vor Schmerzen aufgeben muss?
Die HTC VIVE ist ein mächtiger und wichtiger Schritt, für eine völlig neue Art des Spielens. Und das sage ich nicht, weil ich dafür bezahlt werde – sondern weil ich es selbst erlebt habe.