Oscar-Tippschein 2015/2016

Das Unvermeidliche steht vor der Tür: Hollywoods größte Selbstbeweihräucherungsshow geht in die 88te Runde. Und im Gegensatz zu den Jahren davor könnte es so richtig spannend werden – theoretisch, zumindest. Auf, auf, das all die hässlichen Statistiken gesprengt werden und wir mal ein paar Überraschungen geboten bekommen!

Bester Film

Nominiert sind:
The Big Short
Bridge of Spies
Brooklyn
Mad Max: Fury Road
Der Marsianer
Raum
The Revenant
Spotlight

Der letzte Preis des Abend ist einer, der am meisten in der Luft hängt. Rein statistisch gesehen hat KEINER der Filme eine Chance auf den Sieg: The Big Short wurde von den Golden Globes nicht für die beste Regie nominiert, Spotlight verfehlte das gleiche Ziel bei den BAFTAs, das Schausspielerensemble von The Revenant musste bei der Screen Actor Gilde tatenlos zusehen und Mad Max: Fury Road sprengte bereits mit seiner Nominierung alle Genre-Konventionen der Academy. Der Marsianer hätte eigentlich das Zeug dazu gehabt, Ridley Scott endlich seinen Regieoscar zu geben – wenn der Film nicht ausgerechnet in der Kategorie gedisst worden wäre. Und die anderen, ergo Raum, Bridge of Spies und Brooklyn, galten von vorneherein als Lückenfüller.

Schaut man sich nun an, welcher Film in den letzten Wochen auffallend oft bei anderen Awardshows gesiegt hat, dann kommt schnell ein gemeinsamer Nenner heraus: The Revenant. Groß abgeräumt bei den Golden Globes und den BAFTAs ist schon mal nicht übel. Dann bekam Alejandro Gonzalez Inarritu auch noch den Director Guild Award – womit er nach seinem letztjährigen Sieg für Birdman der erste Regisseur überhaupt ist, der diese Leistung in zwei aufeinander folgenden Jahren gepackt hat.

Denn das war eigentlich mal der Hauptgrund, warum niemand The Revenant so wirklich als Front-runner für den Best-Picture-Oscar ernst nehmen wollte: weil Inarritu bereits mit Birdman gewann. Ganz im Gegensatz übrigens zu den Globes und dem BAFTA, weshalb so mancher Prognostiker die dortigen The-Revenant-Durschmärsche nicht auf die Goldwaage legen möchte.

Meiner Meinung ist das zu kompliziert gedacht: Wenn einer Fan von The Revenant ist, dann wird er den Film sicherlich auch wählen – Birdman hin oder her. Ja, der letztjährige Sieg roch sehr nach einer Anti-Boyhood-Wahl. Aber ansonsten sind der Academy solche (<= wichtig!) Politikspielchen erstaunlich egal. Sie zeichnen das aus, was sie wollen.

“Ja, du Laberheini. Wieso tippst du dann nicht auf The Revenant sondern auch noch ganz hochnäsig auf deinen eigenen Favoriten The Big Short?” – Das Zauberwort heißt Producer Guild Award – oder besser Preferential Voting, zu schlecht Deutsch “Vorzugswahl”.

Bei den Oscars herrscht ein simples System: Jeder Wähler gibt für jede Kategorie seinen Favoriten unter den Nominierten an und am Ende gewinnt der mit den meisten Stimmen. Es gibt jedoch eine Ausnahme, die eben die Kategorie “Best Picture” betrifft. Weil dort bis zu zehn Filme nominiert werden dürfen, könnte ein Kandidat mit knapp über 10% Erwähnungen siegen. Das wiederum ist für ein “eindeutiges” Votum arg gering, weshalb hier das Preferential Voting zum Einsatz kommt.

Nach dem müssen alle Wähler eine Rangliste der von ihnen gesehenen Best-Picture-Nominees abgeben. Die Wahlzettel werden nach den Erstplatzierten sortiert und anschließend geschaut, welcher Film die wenigsten erhalten hat. Dieser wird überall durchgestrichen und der Zettel in Abhängigkeit des Zweitplatzierten auf die bereits vorliegenden Stapel verteilt. Erneut wird der Kandidat mit dem geringsten Anteil gekickt und man beginnt das Spielchen mit den Nächstplatzierten. Das Verfahren wird so lange wiederholt, bis ein Film über 50% aller Zettel vereint.

Der Producer Guild Award ist derzeit die einzige Vereinigung, die in Punkto Filmawards das gleiche Prinzip anwendet. Und dort gewann eben NICHT The Revenant sondern The Big Short.

The Revenant hat nämlich einen riesigen Vor- und einen schwerwiegenden Nachteil: Der Film hat einerseits die meisten Fans und andererseits die meisten Gegner. Laut Metacritic hat Innaritus Meisterstück jedenfalls ungewöhnlich viele negative Kritiken erhalten – also für einen Streifen solchen Kalibers. Zwar war das auch bei älteren Best-Picture-Gewinnern wie A Beautiful Mind oder L.A. Crash der Fall – doch damals gab es auch nur fünf Nominierungen und kein Preferential Voting.

Deshalb vertraue ich dem Producer Guild Award, auch wenn ich völlig daneben liegen kann. Schließlich würde laut meinen weiteren Tipps The Big Short auf maximal drei Awards kommen, während The Revenant fast alle seine 12 Nominierungen einheimsen könnte.

Lasst euch jedenfalls nicht von meinem Ranking irritieren: Auch ich sehe The Revenant als etwas Großartiges an. Doch 2015 war aus meiner Sicht ein verdammt gutes Jahr, mit vielen richtig guten Filmen, die allesamt völlig unterschiedlicher Natur sind. Von den acht nominierten Kandidaten möchte ich nur über Bridge of Spies motzen, der in meinen Augen in keiner Weise besonders herausragt. Dafür vermisse ich schmerzlich solch potenzielle Klassiker wie Steve Jobs (leider bös gefloppt), Anomalisa (aufgrund seiner Art recht freakig), Carol (eine fantastische Love-Story) und Alles steht Kopf (meine absolute Nummer 1 des Jahres – nach Die Schöne und das Biest der zweite animierte Film, der das je geschafft hat).

Personal Ranking

1. The Big Short
2. Brooklyn
3. Mad Max: Fury Road
4. Der Marsianer
5. Spotlight
6. The Revenant
7. Raum
8. Bridge of Spies

Front-runner: The Big Short
Runner-up: The Revenant
My vote: The Big Short
Missing: Alles steht Kopf

Beste Regie

Nominiert sind:
Adam Mc Kay (The Big Short)
Alejandro Gonzalez Inarritu (The Revenant)
George Miller (Mad Max: Fury Road)
Lenny Abrahamson (Raum)
Thomas McCarthy (Spotlight)

Wette niemals gegen den Director Guild Award – außer wenn der dortige Sieger nicht bei den Oscars nominiert ist (ein “Hallo” an Steven Spielberg, Ron Howard und Ben Affleck). Ansonsten wich der Sieger nur in vier weiteren Fällen ab – und das in einem Zeitrahmen von über 60 (!) Jahren. DAS ist eine Statistik!

Aber, wie gesagt: Innaritu hat bereits letztes Jahr gewonnen. Bei den Oscars ist solch ein Doppelerfolg zwar nicht ungehört, weil die Herren John Ford und Joseph L. Mankiewicz den gleich Coup in den 1940er Jahren vollbracht haben (kurz bevor der Dirctor Guild Award zum ersten Mal vergeben wurde). Doch wenn die Oscar-Wähler denken “Genug ist genug!”, dann achtet auf George Miller: Sein Film ist zwar alles andere als Academy-Award-Kaliber, doch seine Regieleistung gilt als universell geschätzt. Ähnlich wie im Falle von Alfonso Cuarons Gravity bekam der Australier viele erstaunte Reaktionen renommierter Kollegen und dutzendfach Anfragen, wie er so einen Film drehen konnte.

Laut Insidergeflüster hat sich jedenfalls die Lobby der Wähler, die bewusst gegen Inarritus zweiten Regieoscar wettert, hinter George Miller gestellt. Das macht meinen Favoriten Adam McKay leider zum krassen Außenseiter.

Front-runner: Alejandro Gonzalez Inarritu (The Revenant)
Runner-up: George Miller (Mad Max: Fury Road)
My vote: Adam McKay (The Big Short)
Missing: Charlie Kaufman & Duke Johnson (Anomalisa)

Bester Hauptdarsteller

Nominiert sind:
Bryan Cranston (Trumbo)
Eddie Redmayne (The Danish Girl)
Leonardo DiCaprio (The Revenant)
Matt Damon (Der Marsianer)
Michael Fassbender (Steve Jobs)

Müssen wir wirklich darüber reden? Ja, liebes Internet: Leonardo DiCaprio gewinnt einen Oscar. Und nicht, weil es endlich Zeit wird – nein, weil es verflixt nochmal seine erste, echte, greifbare Chance ist. DiCaprio wurde nie übergangen oder benachteiligt: Er hatte stets einen unschlagbaren Konkurrenten im Nacken – sei es Matthew McConaughey, Jamie Foxx oder Forrest Whittaker.

Diesmal jedoch hat DiCaprio leichtes Spiel – nicht zuletzt weil das Umfeld erschreckend schwach ist. Nichts gegen Bryan Cranston, aber seine Nominierung für Trumbo ist so nötig wie ein Kühlschrank in der Antarktis. Auch Eddie Redmayne in The Danish Girl ist weit, weit entfernt von seiner letztjährigen Hammerleistung, für die er zurecht gewann. Das dafür solche Größen wie Michael Caine (Ewige Jugend), Michael B. Jordan (Creed) oder Abraham Attah (Beasts of No Nation) übergangen wurden, stimmt mehr als traurig.

Michael Fassbender wiederum gefällt mir als Steve Jobs verdammt gut, während ich persönlich Matt Damons Leistung in Der Marsianer tatsächlich am genialsten empfand. Aber ich darf dem Jungen auch meinen persönlichen Award überreichen, weil in meinen Statistiken DiCaprio bereits als zweifacher Sieger auftaucht.

Front-runner: Leonardo DiCaprio (The Revenant)
Runner-up:
My vote: Matt Damon (Der Marsianer)
Missing: Michael Caine (Ewige Jugend)

Beste Hauptdarstellerin

Nominiert sind:
Brie Larson (Raum)
Cate Blanchett (Carol)
Charlotte Ramping (45 Years)
Jennifer Lawrence (Joy)
Saoirse Ronan (Brooklyn)

Nachdem ich Brooklyn gesehen hatte, war ich mir sicher: Saoirse Ronan ist die beste Hauptdarstellerin 2015 und wird zu Unrecht gegen die Favoriten Brie Larson verlieren. Dann jedoch sah ich Raum und musste meine Meinung gedemütigt in Angesicht ihrer emotionalen Tour de Force revidieren.

Gleichwohl ist da eigentlich noch eine andere Kandidaten, die hier hätte gewinnen müssen und verschämt in die Nebendarstellerecke verbannt wurde – obwohl Rooney Mara in Carol MEHR zu sehen ist als Cate Blanchett.

Front-runner: Brie Larson (Raum)
Runner-up: Saoirse Ronan (Brooklyn)
My vote: Brie Larson (Raum)
Missing: Rooney Mara (Carol)

Bester Nebendarsteller

Nominiert sind:
Christian Bale (The Big Short)
Mark Rylance (Bridge of Spies)
Mark Ruffalo (Spotlight)
Tom Hardy (The Revenant)
Sylvester Stallone (Creed)

Jeder, der Sylvester Stallones Revival von Rocky Balboa in Creed sah, der wusste: Dafür kriegt er einen Oscar. Dann kamen die Nominierungen der Screen Actor Gilde – und dort fehlte sein Name. Seine Chancen auf einen Academy Award sanken nahezu auf Null und alle warteten gebannt, wer den Screen Actor kriegen und somit als neuer Front-runner in das Oscarrennen einsteigen würde. Und was hat die Gilde gemacht? Idris Elba ausgezeichnet – der seinerseits von der Academy ignoriert wurde…

Man könnte auch sagen: Die Screen Actor Gilde musste da was gerade biegen und nebenbei dem OscarSoWhite-Aufschrei mehr Feuer geben, indem sie einen schwarzen Schauspieler krönten. So oder so darf sich Sylvester Stallone dann doch nach vierzig Jahren auf einen Goldjungen freuen – sofern sich die Wählerschaft, die ihm auch für die theoretisch beste Leistung aller Zeiten niemals einen Oscar geben würde, nicht geschlossen hinter einen seiner Konkurrenten stellt. Doch wer soll das sein? Die Screen Actor Gild hat jedenfalls erfolgreich dafür gesorgt, keine konkreten Vorschläge zu machen…

Front-runner: Sylvester Stallone (Creed)
Runner-up: Christian Bale (The Big Short)
My vote: Sylvester Stallone (Creed)
Missing: Idris Elba (Beasts of No Nation)

Beste Nebendarstellerin

Nominiert sind:
Alicia Vikander (The Danish Girl)
Jennifer Jason Leigh (The Hateful Eight)
Kate Winslet (Steve Jobs)
Rachel McAdams (Spotlight)
Rooney Mara (Carol)

Die Kategorie ist so zum Heulen: Rooney Mara und Alicia Vikander sind zu 100% die jeweiligen Hauptdarstellerinnen ihrer Filme – ohne wenn und aber. Aber nein: Aufgrund ihres “jungen” Alters und einer dreckig-gewitzten Kampagne dürfen sie sich mit den Nebendarstellerinnen messen. Schließlich bestimmen die Wähler selbst die Kategorie: Der- oder diejenige kommt einfach dort unter, wo es die meisten Stimmen gab.

Alicia Vikander für The Danish Girl gilt demnach als Favoritin, allein schon weil Carol ja nichts gewinnen darf. Wäre ja noch schöner, wenn dieser grandiose Film auch noch ‘ne Auszeichnung bekommt (/Ironie aus).

Meine persönliche Wahl ist zweigeteilt: Würde ich mich tatsächlich für eine Frau aus dem Nominierungsfeld entscheiden, dann wäre Mara an der Reihe. Aber gehe ich nach Fairness und beurteile nur die Mädels, die in meinen Augen als Nebendarstellerinnen durchgehen, dann macht es ganz knapp die Kate, die Winslet – auch wenn es dort ebenfalls den einen oder anderen gibt, der ihre Rolle eher als “Haupt” anstatt als “Neben” bezeichnet.

Front-runner: Alicia Vikander (The Danish Girl)
Runner-up: Kate Winslet (Steve Jobs)
My vote: Rooney Mara (Carol) / Kate Winslet (Steve Jobs)
Missing: Jane Fonda (Ewige Jugend)

Bestes Drehbuch (original)

Nominiert sind:
Alles steht Kopf
Bridge of Spies
Ex Machina
Straight Outta Compton
Spotlight

Solange die OscarSoWhite-Kampagne nicht zu viele Schuldkomplexe aufleben lässt und deshalb Straight Outta Compton gewinnt, ist dieser Oscar nicht mehr Spotlight zu nehmen. Das perfekt durchdachte Drehbuch ist neben dem beeindruckenden Schauspielerensemble der Grund schlechthin, warum Thomas McCarthys Drama überhaupt noch Chancen für den Best Picture Oscar eingeräumt werden.

Front-runner: Spotlight
Runner-up: Straight Outta Compton
My vote: Alles steht Kopf
Missing: Sicario

Bestes Drehbuch (adaptiert)

Nominiert sind:
The Big Short
Brooklyn
Carol
Der Marsianer
Raum

Was für Spotlight und das beste Originaldrehbuch gilt, das lässt sich 1:1 auf die adaptierten Werke und The Big Short übertragen. Wer hätte je gedacht, dass der Regisseur von Anchorman, Die etwas anderen Cops oder Stiefbrüder ein derart cleveres wie gewitztes Bürschchen ist? Die auf verschiedene Protagonisten verteilte Geschichte ist trotz ernster Thematik und schwer erklärbarer Fachbegriffe ein leichtverdaulicher Genuss, bei dem euch erst ganz am Ende das Lachen im Halse stecken bleibt.

Front-runner: The Big Short
Runner-up: Der Marsianer
My vote: The Big Short
Missing: Steve Jobs

Bester Filmschnitt

Nominiert sind:
The Big Short
Mad Max: Fury Road
The Revenant
Spotlight
Star Wars – Das Erwachen der Macht

Jetzt wird’s tricky, denn der Preis für den besten Filmschnitt hängt völlig in der Luft. Das heißt wir lassen mal Außenseiter Star Wars beiseite und konzentrieren uns auf die vier Kandidaten, die auch als Best Picture im Rennen sind. Denn was viele nicht wissen: Der Filmschnitt hängt mit der Gesamtqualität fast so eng zusammen wie die Regie.

Der vermeintliche Front-runner The Revenant könnte hier bei einem Durchmarsch abräumen, aber da müsste die Academy schon arg in Inarritus Rachedrama vernarrt sein. Spotlight wirkt etwas zu leichtgewichtig und wurde zudem von der zugehörigen Gilde überraschend nicht nominiert – obwohl dort doppelt so viele Plätze zur Verfügung stehen.

Es bleibt ein völlig offenes Rennen zwischen Mad Max: Fury Road und The Big Short: Ersterer hatte das meiste Filmmaterial, welches George Millers Frau Margaret Siskel zusammenfriemeln musste. Die Frage ist: Weiß das der gemeine Academy-Wähler? Wenn nein, dann geht der Preis an The Big Short für die prächtigen Wechsel zwischen den Protagonisten und den allgemein sehr schnell geschalteten Schnitten.

Front-runner: The Big Short
Runner-up: Mad Max: Fury Road
My vote: The Big Short
Missing: Alles steht Kopf

Bestes Produktionsdesign

Nominiert sind:
Bridge of Spies
The Danish Girl
Mad Max: Fury Road
Der Marsianer
The Revenant

Erneut kommen wir zu einer Kategorie, wo fast alle Nominierten reelle Chancen haben. Mein Favorit Der Marsianer gilt gleichwohl als Außenseiter, was ich nicht verstehe: Sowohl die CGI-Kulisse auf dem Mars als auch die Einrichtungen der NASA-Räumlichkeiten wirken vom Aufbau her sehr authentisch sowie stimmig. The Revenant hingegen ist für mich ein Problemkind, denn um ehrlich zu sein müsste man die Produktionsdesigner für ihre Kunst, die richtigen Bäume ausgesucht zu haben, belohnen.

Ein sehr guter Kompromiss zwischen komplexer Aufbau und Originaliät stellt Mad Max: Fury Road dar, gleichwohl der Film größtenteils aus Wüstenszenen besteht. Aber wenn mal ein paar Bauten zu sehen sind, dann machen die mächtig Eindruck.

Vielleicht gibt es auch einen Überraschungscoup á la Lincoln, das hier vor drei Jahren den Oscar überraschend gewann. Dann wäre Spielbergs Bridge of Spies an der Reihe, dem ich diese Auszeichnung sogar gönnen würde. Die Kulissen sind vielschichtig und fangen sehr gut die Atmosphäre der 1960er Jahre ein.

Hab ich einen vergessen? Ja, The Danish Girl – sieht auf dem Papier gut aus, aber ich denke hier ist die Nominierung die Belohnung.

Front-runner: Mad Max: Fury Road
Runner-up: Bridge of Spies
My vote: Der Marsianer
Missing: Brooklyn

Beste Kostüme

Nominiert sind:
Carol
Cinderella
The Danish Girl
Mad Max: Fury Road
The Revenant

Ich bin erneut hin und her gerissen – geht die Academy rein nach der Menge der Kostüme (was sie recht oft tun)? Dann Vorhang auf für Sandy Powells vierten Oscar, in diesem Falle für Cinderella. Der Film ist zwar nirgends sonst nominiert, aber damit kommt die Academy klar. Da reicht es den meisten Wählern ein paar Bilder der Kleider anzuglotzen, anstatt sich gleich den ganzen Film reinzuziehen.

Mad Max: Fury Road wäre das glatte Gegenteil zu den prunkvollen Märchenkleidern, weshalb es in meinen Augen auch der schwergewichtigste Konkurrent ist.

Front-runner: Cinderella
Runner-up: Mad Max: Fury Road
My vote: Mad Max: Fury Road
Missing: Brooklyn

Bestes Make-up und Frisuren

Nominiert sind:
Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand
Mad Max: Fury Road
The Revenant

Ja, ne, Mad Max: Fury Road sollte hier doch recht deutlich gegenüber The Revenant siegen. Das Make-up ist immens aufwändiger und selbst wenn viele Academy-Wähler nichts mit der Thematik des Filmes anfangen können, so haben sie in Punkto Makeup schon bedeutend freakigere Sachen honoriert (ich sag nur Wolfman).

Front-runner: Mad Max: Fury Road
Runner-up: The Revenant
My vote: Mad Max: Fury Road

Beste Kamera

Nominiert sind:
Carol
The Hateful Eight
Mad Max: Fury Road
The Revenant
Sicario

Nein, Emanuel Lubezski: Diesmal kriegst du “meine” Stimme nicht. Ausnahmsweise. Nach Gravity und Birdman sollte mal ein anderer her und wer sonst könnte es sein als John Seale, der mit Mad Max: Fury Road und nach The English Patient die Wüste wie kein anderer einfängt? Was sagt ihr da? Roger Deakins? Für Sicario? Ne… Deakins gewinnt nicht. Deakins gewinnt nie. Deakins darf niemals gewinnen! Deakins ist der wahre DiCaprio… leider.

Aber so oder so ist die The Revenant-Liebe erdrückend – und wie viele Academy-Wähler sind sich schon bewusst, dass sie hier den gleichen Kameramann zum dritten Mal in Folge auszeichnen?

Front-runner: The Revenant
Runner-up: Mad Max: Fury Road
My vote: Mad Max: Fury Road

Beste Musik

Nominiert sind:
Bridge of Spies
Carol
The Hateful Eight
Sicario
Star Wars – Das Erwachen der Macht

Seufz. Ganz großes Seufz. Nicht nur, dass diese Kategorie in diesem Jahr bemerkenswert unbemerkenswert ist: Ich komme mit den beiden Front-runnern überhaupt nicht überein.

John Williams Star Wars – Das Erwachen der Macht hat gerade mal ein tolles, wirklich frisches Musikstück parat (“Rey’s Theme”) und klingt ansonsten so austauschbar wie ein Eimer mit dunkelroter Farbe. Und The Hateful Eight? Ach herrjeh… ja, das Hauptthema ist schön düster. Aber ansonsten kommt doch kaum Musik im Film vor… und irgendwie merkt man auch, dass Morricone größtenteils ungenutztes Material abgegeben hat, das ursprünglich für John Carpenters Das Ding gedacht war. Wofür der große Maestro übrigens eine Nominierung für die goldene Himbeere gekriegt hat…

Aber ich kann es den Golden Globes, den BAFTAs und mutmaßlich auch der Academy nicht verdenken, hier den 87 jährigen Ennio Morricone auszuzeichnen. Er hat noch nie einen Oscar gewonnen – abseits einen in Ehre für sein Lebenswerk. Es ist definitiv seine letzte Chance – und wir alle wissen, dass Quentin Tarantino ihn genau deswegen engagiert hat. Der wird sich jedenfalls mehr freuen als der Italiener.

Die anderen drei Kandidaten haben keine Chance, obwohl sie alle um Welten besser sind. Gut: Bei Bridge of Spies kommt mein unverbesserlicher Thomas-Newman-Fanboy hervor, der übrigens auch mal so langsam ‘nen Oscar kriegen sollte. Zwölf Nominierungen sind anscheinend nicht genug.

Für meine persönliche Stimme möchte ich am liebsten jeden Tag neu würfeln: Carol ist klassisch, lieblich und für mich DIE Überraschung der Saison, weil ich bislang mit Carter Burwell nur wenig anfangen konnte. Und Sicario? Das glatte Gegenteil: Düster, böse, ambient bis zum Anschlag. Eine absolute 180 Grad Wendung gegenüber Jóhann Jóhannssons Die Entdeckung der Unendlichkeit. Und vermutlich eines von vielen, noch kommenden Bausteinen, die ihm irgendwann einen Sieg bescheren.

Front-runner: The Hateful Eight
Runner-up: Star Wars – Das Erwachen der Macht
My vote: Carol
Missing: Brooklyn

Bester Song

Nominiert sind:
“Earned it” (Fifty Shades of Grey)
“Manta Ray” (Racing Extinction)
“Simple Song #3” (Ewige Jugend)
“Til It Happens To You” (The Hunting Ground)
“Writing’s on the Wall” (Spectre)

Es wirkt wie eine Witzkategorie: Allgemein gilt der Preis für den besten Song als sehr umstritten, weil kaum jemand dahinter eine wirklich auszeichnungswürdige Leistung sieht. Letztlich ist es für die Academy die Gelegenheit, berühmten Sängern einen Oscar zu geben. Doch diesmal sieht’s allein deshalb peinlich aus, weil alle fünf Nominierten nur in dieser Kategorie genannt sind.

Die Auswahl macht auf dem Papier keinen besseren Eindruck. Ganz im Gegenteil: zwei Dokumentarfilme, eine Opernszene einer italienisch-englischen Koproduktion, der dramatisch umstrittene Titelsong zum letzten Bondfilm und… Fifty Fucking Shades oh mein Gott of Gray.

Ja, ich hab mir das Teil extra wegen dieser Nominierung angeschaut. Nein, der Film ist nicht gut – was weniger an den Beteiligten der Produktion und mehr an der horrenden Buchvorlage liegt. Aber… ich trau es mich kaum zu sagen… der Song… also… der ist gut. Der ist wirklich gut. Und der andere, der bei den Globes berücksichtigt wurde, ebenso.

Trotzdem trau ich mich nicht, ihm “meine” Stimme zu geben – und stattdessen entscheide ich mich allen ernstes für “Writing on the Wall”. Der Song kann zwar keinen Meter mit Adeles “Skyfall” aus dem gleichnamigen Bondfilm mithalten – aber er funktioniert insbesondere während des episch inszenierten Vorspanns und hat mich besonders dank des im Hintergrund agierenden Orchesters gepackt. Gleichzeitig muss ich anmerken, dass der wahre beste Song des Jahres, “See You Again” aus Fast & Furious 7, gar nicht erst nominiert ist.

Was den Sieger bei der Oscarverleihung anbelangt, so ist es für die Academy die Chance, Lady Gaga auszuzeichnen. Und, nicht zu vergessen: die große Diane Warren! Acht Nominierungen, bislang kein Oscar – wenn nicht jetzt, wann dann?

Front-runner: “Til It Happens To You” (The Hunting Ground)
Runner-up: “Writing’s on the Wall” (Spectre)
My vote: “Writing’s on the Wall” (Spectre)
Missing: “See You Again” (Fast & Furious 7)

Beste Tonabmischung

Nominiert sind:
Bridge of Spies
Mad Max: Fury Road
Der Marsianer
The Revenant
Star Wars – Das Erwachen der Macht

Ich gebe mir von Jahr zu Jahr Mühe, die schwer zu deutenden Kategorien Tonabmischung und Tonschnitt ernst zu nehmen – aber 2015 muss ich kapitulieren. Es gab nur einen Film, der mir in beiderlei Hinsicht positiv auffiel: The Hateful Eight – und der ist in beiden Bereichen nirgends nominiert.

Demnach gehe ich (wie so viele andere auch) nach dem Film, bei dem es am meisten und am lautesten kracht: Mad Max: Fury Road. Zwar ist solch ein Kriterium gerade bezüglich der Tonabmischung kein Garant für eine Höchstleistung (schließlich soll die Abmischung der einzelnen Effekte, der Musik und der Dialoge besonders gut harmonieren anstatt sich gegenseitig kaputt schreien), aber im Falle von George Millers Endzeitfilm klappt es eben erstaunlich gut.

Front-runner: Mad Max: Fury Road
Runner-up: The Revenant
My vote: Mad Max: Fury Road
Missing: The Hateful Eight

Bester Tonschnitt

Nominiert sind:
Mad Max: Fury Road
Der Marsianer
The Revenant
Sicario
Star Wars – Das Erwachen der Macht

Alle Jahre wieder kommt die Frage auf, wieso die Academy zwei solch ähnliche Kategorien getrennt würdigt, speziell wenn mal wieder vier der nominierten Filmen in beiden auftauchen und fast immer einer alle beide Preise abräumt (außer es ist ein Musical im Rennen, das meist allein für die Tonabmischung gewinnt und für den Tonschnitt in der Regel nicht nominiert ist).

Demnach setze ich abermals auf Mad Max: Fury Road und nenne erneut The Revenant verschämt als Runner-Up, eben weil Innaritu einen Durchmarsch landen könnte.

Front-runner: Mad Max: Fury Road
Runner-up: The Revenant
My vote: Mad Max: Fury Road
Missing: The Hateful Eight

Beste visuelle Effekte

Nominiert sind:
Ex Machina
Mad Max: Fury Road
Der Marsianer
The Revenant
Star Wars – Das Erwachen der Macht

Es wird wieder interessanter – und diesmal stelle ich mich komplett gegen alle Statistiken der Welt. In dieser Kategorie konnte man nämlich über die Jahre hinweg ein interessantes Phänomen beobachten: Wenn ein Best-Picture-Nominee auch für die besten visuellen Effekte im Rennen ist, dann hat ein solcher auch immer gewonnen – mit Ausnahme von 1970, wo Tora! Tora! Tora! Patton schlagen konnte.

Des Weiteren wurden seit 2009 die Preise für die visuellen Effekte und für die beste Kamera an den selben Film verliehen. Erneut gab es nur eine Ausnahme und zwar letztes Jahr – weil kein Film in beiden Kategorien nominiert war!

The Revenant ist DER Favorit für die Kameraarbeit – ergo müsste er demnach auch für die visuellen Effekte gewinnen. Und in der Tat: Der CGI-Bär ist mächtig gut. Mächtig, mächtig, mächtig gut. Aber reicht das? Die eben erwähnte Statistik funktionierte in meinen Augen immer andersherum: Der Oscar für die Kamera richtete sich nach dem für die visuellen Effekte und nicht umgekehrt…

Ganz davon abgesehen setze ich mein Geld auf Star Wars, auch wenn der Film nicht als Best Picture nominiert ist. Das hat zwei Gründe: Zum einen könnte man hier problemlos den derzeit erfolgreichsten Film der US-Kinogeschichte auszeichnen, der unabhängig vom Erfolg viele Fans hat – sicherlich auch innerhalb der Academy. Zum anderen ist die Kategorie erstaunlich voll gestopft mit Best-Picture-Kandidaten, weil neben The Revenant auch noch Mad Max: Fury Road (mein klarer Favorit) sowie Der Marsianer mitmischen. Es riecht geradezu nach gegenseitigem Stimmenklau…

Front-runner: Star Wars – Das Erwachen der Macht
Runner-up: Mad Max: Fury Road
My vote: Mad Max: Fury Road

Bester animierter Film

Nominiert sind:
Anomalisa
Alles steht Kopf
Erinnerungen an Marnie
Der Junge und die Welt
Shaun das Schaf – Der Film

Eigentlich müsste ich mich weigern, eine Alternative zu Alles steht Kopf zu nennen – schließlich ist Pixars Meisterwerk meiner Meinung nach der beste Film 2015. Doch interessanterweise gab es im gleichen Jahr einen weiteren Kracher aus der Trickfeder, der zwar nicht wirklich Chancen auf einen Oscar hat, aber zumindest als Runner-Up erwähnt gehört: Charlie Kaufmans und Duke Johnsons Anomalisa.

Ich kann nur jedem Filmfan nahe legen, sich diese beiden Meisterwerke so schnell wie möglich anzuschauen. Während der eine eine höchst brillante wie wahnsinnig gut durchdachte Geschichte erzählt, ist der andere für mich die neue Referenz in Punkto Regieleistung eines animierten Filmes.

Front-runner: Alles steht Kopf
Runner-up: Anomalisa
My vote: Alles steht Kopf

Bester fremdsprachiger Film

Nominiert sind:
A War(Dänemark)
Der Schamane und die Schlange (Kolumbien)
Mustang (Frankreich)
Son of Saul(Ungarn)
Theeb (Jordanien)

Hier kann ich eigentlich kaum mitreden, denn ich habe keinen (!) der fünf nominierten Filme gesehen. Aber zum Glück ist der Favorit Son of Saul beinahe in Stein gemeißelt. Er erfüllt alle wichtigen Kriterien eines typischen Oscargewinners: Er behandelt den Holocaust, er bekam in Cannes den “Grand Prize of the Jury” und er soll verdammt gut gemacht sein.

Beim Runner-Up kann ich mich ebenso auf meine Oscarwatcher-Kollegen aus dem amerikanischen Raum verlassen, die allesamt Mustang als potenziellen Königsmörder nennen. Weil aber in dieser Kategorie nicht mehr alle Filme gesehen werden müssen, damit man mitstimmen darf, sollten solche Überraschungen nicht weiter passieren.

Front-runner: Son of Saul
Runner-up: Mustang
Haven’t seen: Son of Saul, Mustang, Theeb, Der Schamane und die Schlange, A War

Bester animierter Kurzfilm

Nominiert sind:
Bear Story
Prologue
Sanjay’s Super Team
We Can’t Live Without Cosmos
World of Tomorrow

Die Wahl des besten animierten Kurzfilmes erweist sich als richtig schwierig, weil in meinen Augen alle fünf richtig gut sind. Prologue ist zwar nur ein kurzes, rein Story technisch belangloses Filmchen, bei dem sich vier Krieger gegenseitig auf brutale Weise mit Schwertern und Speeren zermetzeln – aber die fließenden Perspektivwechsel und der altmodisch auf Bleistift getrimmte Zeichenstil sorgen für fantastische Bilder. Zudem stammt der Film von Altmeister Richard Williams, der bereits für Roger Rabbit zwei Oscars erhielt und somit eine kleine Fanbasis innerhalb der Academy haben könnte.

Sanjay’s Super Team ist ein Werk aus dem Hause Pixar und einfach nur süß gemacht. Nach einer angeblich “wahren” Geschichte zeigt Sanjay Patel sich selbst, wie er als kleiner Junge von Superhelden besessen ist, während sein Vater, ein streng gläubiger Hindu, ihn verzweifelt zur Einhaltung der häuslichen Zeremonien drängt. Das Interesse des Jungen hält sich in Grenzen, bis er sich in einer Traumsequenz wiederfindet, in der er von einem bösen Monster angegriffen wird. Hinter ihm erscheinen drei Götter der Hindus, die eine fesche Superheldennummer abziehen. Man mag die Message bezüglich “altmodische Götter = coole Superhelden” in Frage stellen, aber die Umsetzung ist Pixar-typisch auf höchstem Niveau.

Ähnlich professionell kommt Bear Story rüber, in dem ein alter Bär einen mechanischen Spielkasten baut, der wiederum die Geschichte einer Bärenfilme zeigt. Diese wird zunächst tragisch auseinander gerissen, Papa Bär landet im Zirkus, kann sich befreien und findet seine Familie gottlob noch lebend in seinem ansonsten zerstören Heim wieder. Das Interessante hierbei ist eben, dass die Geschichte durch die Idee mit dem Spielkasten quasi innerhalb einer Geschichte erzählt wird.

Geht es jedenfalls nach dem Internet, dann würde Don Hertzfeldts World of Tomorrow abräumen. Und auch wenn er nicht mein Favorit ist: Ich würde es dem Mann allein für sein fünfzehn Jahre altes Rejected gönnen.

World of Tomorrow ist zeichnerisch extrem simpel gestaltet und lebt einzig und allein von seiner genialen Geschichte. Ein kleines Mädchen, gesprochen von Hertzfeldts vierjähriger Nichte, spielt ein wenig am hauseigenen Bildschirm herum, als plötzlich eine junge Frau zu ihr spricht. Sie behauptet, sie sei ihr Klon der dritten Generation. Mehr noch: Die Menschheit hätte dank des Klonens und der Übertragung von Erinnerungen eine Möglichkeit gefunden, unsterblich zu werden. Zudem gebe es Zeitreisen, wobei jedoch eine Klassengesellschaft entstand: Die Reichen nutzen eine recht sichere Technik, die Armen eine holprige, die oft zum Tod führt.

Während der Klon dem kleinen Mädchen von der “Welt von Morgen” berichtet, dabei so emotionslos wie ein Roboter klingt und definitiv nicht nur gute Nachricht parat hat, ist das Mädchen selbst total verspielt wie verpeilt. Der Kontrast ist entsprechend grandios.

Ohne jeden Zweifel ist World of Tomorrow der cleverste Kurzfilm von allen – und genau aus dem Grund kann ich mir nicht vorstellen, dass er gewählt wird. Es gefällt dem typischen Internetjunkie und Computernerd – und die Academy ist das glatte Gegenteil davon.

Nein: Ich setze (und hoffe) auf meinen Favoriten We Can’t Live Without Cosmos. Dort wird die Geschichte zweier Jugendfreunde erzählt, die von klein auf Astronauten werden wollen. Sie erreichen in der Tat alle dafür nötigen Bedingungen und werden für die nächste Mission ins All gewählt. Doch als der eine von ihnen startet und es zu einem Zwischenfall kommt, da passieren mit dem anderen gar wunderliche Dinge…

We Can’t Live Without Cosmos ist lustig, rührend und verdammt gut durchdacht. Der Zeichenstil ist auf den ersten Blick sehr simpel, lebt aber von ein paar fantastischen Szenenwechseln. Zudem kommt der Film komplett ohne Dialoge aus und erzählt trotzdem einwandfrei eine sehr schön geschriebene Geschichte.

Front-runner: We Can’t Live Without Cosmos
Runner-up: Bear Story
My vote: We Can’t Live Without Cosmos

Bester Kurzfilm

Nominiert sind:
Alles wird gut
Ave Maria
Day One
Shok
Stutterer

Was für die animierte Garde gilt, zählt auch für die Live-Action-Kategorie: die fünf nominierten Kurzfilme sind allesamt gut bis sehr gut. Noch am relativ schwächsten wirkt Ave Maria: Eine Familie israelischer Herkunft strandet mitten in Westjordanland vor einem Kloster, in dem fünf Nonnen ihrem ewigen Schweigegelübde nachgehen. Dank des Sabbats darf der Familienvater keine technischen Geräte benutzen, während den Nonnen freilich das Reden untersagt ist. Das wiederum führt zu ein paar amüsanten Konflikten, weshalb Ave Maria gekonnt die Idiotie religiöser Sturheit aufs Korn nimmt, ohne die jeweiligen Glaubensrichtungen zu beleidigen.

Ebenfalls charamant ist Stuttererer, der von einem Stotterer erzählt, der seit einem halben Jahr mit einer Frau chattet, ohne sie je persönlich getroffen zu haben. Natürlich haben sich beide ineinander verliebt, weshalb sie ihn endlich besuchen kommen möchte. Er jedoch hat aufgrund seiner Krankheit Angst, dass sie sich beim ersten Kontakt von ihm abwendet – das typische Problem unter schüchternen Verliebten eben. Natürlich klärt sich alles auf und es kommt zu einer vorhersehbaren, aber stimmigen Pointe.

Es gibt zwei Gründe, warum Stuttererer gewinnen könnte: Zum einen sind die Szenen, in denen der Alltag des Stotterers gezeigt wird und man seine Gedanken klar und deutlich aus dem Off hört, vortrefflich inszeniert, weshalb man sich prima in die Rolle des Hauptcharakters hineinversetzen kann. Zum anderen ist es neben Ave Maria der einzige Film, der ein gutes Ende nimmt. Die verbleibenden drei hingegen sind nichts für Leute, die schon mit dem realen Alltag überfordert sind und mit dem Leid der Welt so ihre Probleme haben.

Day One erzählt die Geschichte einer Dolmetscherin, die ihren ersten Tag in Afghanistan antritt. Neben den typischen Startschwierigkeiten, dass sie es als Frau unter einer Horde von männlichen Soldaten grundsätzlich nicht leicht hat, stolpert sie gleich bei ihrem Debüteinsatz in einen tragischen Konflikt. Ihre Einheit nimmt einen afghanischen Bombenbastler gefangen, worauf es zu einer Explosion kommt. Davon gerät seine hochschwangere Frau in Mitleidenschaft, deren Fruchtblase platzt. Und weil sie aufgrund ihrer Kultur keine Männer als Hilfe bei der Geburt duldet, muss eben die blutjunge Dolmetscherin ran. Die Tatsache, dass bereits ein Ärmchen des Babys herausguckt, macht die Sache jedenfalls nicht einfacher…

Der Film springt von einem tragischen Moment zum anderen – und in dem Moment, wo man glaubt, dass doch noch alles halbwegs gut ausgeht, haut er einem in die Magengrube. Die schauspielerische Leistung ist jedenfalls sensationell gut, insbesondere die des afghanischen Bombenbauers.

Ähnlich tragisch ist der Film mit dem harmlosen Namen Alles wird gut: Ein Mann holt seine Tochter von seiner Ex-Frau für das anstehende Wochenende ab. Sie fahren gemeinsam in einen Spielwarenladen, wo sich die Kleine das größte Playmobilset aussuchen darf. Zunächst ist alles Friede, Freude, Eierkuchen, doch nach einer Weile merkt das Mädchen, dass ihr Vater etwas verheimlicht. In der Tat hat er den festen Entschluss gefasst, seine Tochter zu entführen und mit ihr ein neues Leben fernab der Ex-Frau zu führen.

Von Anfang an wird klar, dass das nicht gut ausgehen kann. Man merkt schnell, dass der Mann eigentlich keinen Plan hat, was er da tut und wie er sich das letztlich vorstellt. Die Schlussszene, in der er von seiner Ex-Frau und der Polizei in einem Hotelzimmer aufgefunden wird und sich minutenlang (!) an seine Tocher klammert, ohne sie loszulassen, lässt euch als Zuschauer zerstört zurück.

Doch all das ist ein Dreck gegen Shok, dem mit riesigen Abstand besten Kurzfilm des Jahres 2015. Ein Mann fährt zurück in seine Heimat, einem kleinen Dorf mitten im Kosovo. Auf der Straße liegt ein umgekipptes Fahrrad. Er steigt aus seinem Auto, starrt das Fahrrad an und erinnert sich zurück an seine Kindheit. Dort durchleben er sowie sein bester Freund Oki den kriegerischen Alltag des Kosovokonfliktes und müssen eine lebensbedrohliche Situation nach der anderen überstehen.

Das Ende ist unglaublich fies, niederschmetternd und schreiend ungerecht. Regisseur Jamie Donoughue hat die tragischste Szene dermaßen gut inszeniert, dass Shok allein für diese fünf Sekunden gewinnen sollte. Darüber hinaus ist die Darstellung der Kinder bemerkenswert und ein Lehrbeispiel für hoch bezahlte Hollywoodregisseure, die so etwas nur halb so gut hinkriegen.

Front-runner: Shok
Runner-up: Stutterer
My vote: Shok

Bester Dokumentarfilm

Nominiert sind:
Amy
Cartel Land
The Look of Silence
What Happened, Miss Simone?
Winter on Fire: Ukraine’s Fight for Freedom

Das Feld der Dokumentarfilme ist rein von der Qualität her breit gefächert. Während mich What Happened, Miss Simone? eher kalt lässt und sowohl Cartel Land als auch Winter on Fire: Ukraine’s Fight for Freedom in meinen Augen zu wenig aus ihren jeweiligen Themen herausholt, sind die beiden Top-Favoriten Amy und The Look of Silence aus völlig verschiedenen Gründen eine Klasse für sich.

The Look of Silence ist quasi eine Fortsetzung zu Joshua Oppenheimers brillanten The Act of Killing. Diesmal wird das Grauen des Genozids in Indonesien aus Sicht einer der Opferfamilien gezeigt – oder besser gesagt eines Mannes, dessen Bruder auf grausame Weise von den Machthabern des Landes getötet wurde.

Man sieht abwechselnd, wie er sich die von Oppenheimer aufgezeichneten Interviews anschaut, in denen frei von der Tötung seines Bruders erzählt wird, und wie er mit Menschen redet, die direkt oder indirekt an der Tat beteiligt waren. Erneut ist es gleichzeitig faszinierend und erschreckend, in welchem Tonfall die Mörder reden. Sie wirken entweder gleichgültig oder machen sich darüber lustig, praktisch Unschuldigen bei lebendigem Leibe den Penis abgeschnitten zu haben.

Doch Oppenheimer wird erneut verlieren und diesmal sogar zurecht. Den Asif Kapadias Amy ist in meinen Augen unschlagbar. Der Film fasst das kurze Leben und die abenteuerliche Karriere von Amy Winehouse zusammen. Die ausgewählten Szenen und der Schnitt sind dermaßen gut, dass man phasenweise das Gefühl hat, einen Spielfilm vor Augen zu haben. Genau wie in Kapadias vorhergehender Doku Senna verzichtet er auf selbst gedrehtes Material und lässt Augenzeugen nur aus dem Off sprechen. Auch das trägt immens zur Authentizität von Amy bei, der in seiner relativ kurzen Zeit ein hervorragendes Gefühl vermittelt, was bei der Frau schief gelaufen ist.

Front-runner: Amy
Runner-up: The Look of Silence
My vote: Amy

Bester Dokumentar-Kurzfilm

Nominiert sind:
Body Team 12
Chau, Beyond the Lines
Claude Lanzmann: Spectres of the Shoah
A Girl in the River: The Price of Forgiveness
Last Day of Freedom

Von der verbleibenden Kategorie habe ich immerhin drei Filme gesehen, was in Anbetracht der schweren Zugänglichkeit der Dokumentarkurzfilme nicht schlecht ist. Claude Lanzmann: Spectres of the Shoah wirkt auf dem Papier dezent bizarr, weil der Dokumentarfilm die Arbeit eines Dokumentarfilmers dokumentiert. Allerdings bezieht sich das Porträt dem Namen nach auf Claude Lanzmann, der die berühmteste und nach Aussagen vieler Experten wichtigste Holocaust-Dokumentation Shoah auf die Beine gestellt hat. Ein Prozess, der Lanzmann mehr als eine ganze Dekade seines Lebens gekostet hat…

Chau, Beyond the Lines hingegen ist rein visuell gesehen richtig harter Tobak und zeigt Bilder, die man in “normalen” Filmen nie sehen würde. Es geht um körperlich verkrüppelte Kinder in Vietnam, die aufgrund von Agent Orange, einem Gift, das die Amerikaner während des Krieges über die Felder sprühten, von Geburt an massiv entstellt sind. Le Minh Chau ist der zentrale Charakter, der trotz seiner deformierten Gliedmaßen Maler werden möchte. Darüber hinaus seht ihr immer nur phasenweise beziehungsweise am Rande andere Kinder, deren Anblick die meisten Menschen kaum ertragen könnten. Es ist fies, das zu sagen, aber sie sehen aus wie die bizarren Auswüchse eines Horrorfilmes – nur dass sie tatsächlich existieren und reale Personen sind.

Bleibt zu guter Letzt Last Day of Freedom, das die tragische Geschichte des Kriegsveteranen Manny Babbitt aus Sicht seines Bruders Bill schildert. Manny wird als Kind in einen Autounfall verwickelt und hat fortan sichtliche Lernschwierigkeiten. Er zieht in den Vietnamkrieg, der ihn zusätzlich traumatisiert. Jahre später ermordet er aus unerklärlichen Gründen eine alte Frau. Der Mann, der den Beweis für seine Schuld erbringt und ihn der Polizei übergibt? Bill, sein eigener Bruder.

An Manny wird ein Exemplar statuiert: Ohne Zeugenaussagen, die ihm beiseite stehen, und ohne Berücksichtigung seiner posttraumatischen Belastungen wird er von den Geschworenen für schuldig befunden und letztlich zum Tode verurteilt. Da spielt der Aspekt, dass Manny schwarz war und die Jury komplett weiß, fast schon eine nebensächliche Rolle.

Bei den anderen beiden Kandidaten konnte ich nur Trailer schauen und auf Wikipedia nachlesen: Body Team 12 begleitet Helfer des Roten Kreuzes, die vor zwei Jahren in einem vom Ebolavirus befallenen Seuchengebiet Leichen bergen mussten. A Girl in the River: The Price of Forgiveness hingegen ist eine Art Fortsetzung zu Saving Face. Der Film schildert das Martyrium einer jungen Frau, die seit einem Ehrenmord-Anschlag entstellt ist und den Tätern, namentlich ihrem Onkel und ihrem Vater, aufgrund des Drucks der Gesellschaft verzeihen musste. Und die daraufhin wieder auf freien Fuß gesetzt wurden…

So oder so gilt Last Day of Freedom als Favorit und das auch zurecht. Neben der ungewöhnlichen Darstellung, die sämtliche Szenen in Form von simplen Zeichnungen zeigt, ist es vor allem die Stimme von Bill Babbitt, der am Ende völlig zerbricht. Einerseits wollte er das richtige tun und konnte nicht einfach so den Mord, den sein Bruder offenkundig begangen hat, vertuschen. Andererseits ging er davon aus, dass Manny einen fairen Prozess erhält – und nicht sein Leben aufgrund einer Giftspritze verliert.

Front-runner: Last Day of Freedom
Runner-up: Claude Lanzmann: Spectres of the Shoah
My vote: Last Day of Freedom
Haven’t seen: Body Team 12, A Girl in the River: The Price of Forgiveness