Oscar: Der Nominierungsprozeßwahn

Diesen Erklärungstext wollte ich schon vor Jahren schreiben: Wie wird eigentlich bei den Oscars die Riege der “Best-Picture“-nominierten Filme bestimmt?. Vorweg: Es ist so mit das nerdigste Thema, was ihr je auf “The Awardian“ lesen werdet. Nein, ich korrigiere mich: Es ist DAS nerdigste Thema. Und all jene, die wenig mit Mathematik am Hut haben, dürften beim folgenden Text schwer schlucken beziehungsweise nach spätestens fünf Absätzen aufgeben.

Zunächst muss ich der Einfachheit halber ein klein wenig tricksen: Die Academy of Motion Picture Arts and Sciences besteht aus über 6000 Mitgliedern. Weil ich beim Beschreiben des Nominierungsverfahrens diverse mathematische Rechenbeispiele durchführe, reduziere ich die Menge auf übersichtliche 5000.

Punkt 1: Die Erstplatzierungen

Jedes Academy-Mitglied darf auf seinem Stimmzettel eine persönliche “Top 5“ seiner Lieblingsfilme des Jahres auflisten. Die Zettel werden gesammelt und nach den jeweiligen Erstplatzierungen sortiert.

Als Nächstes wird die Anzahl aller abgegebenen Stimmen durch elf geteilt und das Ergebnis auf die nächstgrößere Zahl gerundet. Konkret: In meinem Beispiel haben alle 5000 Academy-Mitglieder einen gültigen Stimmzettel abgegeben. Teile ich diese Menge durch elf, dann erhalte ich einen Wert von ungefähr 454,54. Die nächstgrößere Zahl beträgt demnach 455.

Insgesamt dürfen bis zu zehn Filme als “Best Picture“ nominiert werden (dazu später mehr). Rein mathematisch gesehen ist es unmöglich (!), dass MEHR als zehn Filme jeweils 455 Erstplatzierungen erhalten. Rechnet es einfach nach: 455 mal 10 ergibt 4550. D.h. selbst wenn der Rest der 5000 Academy-Mitglieder geschlossen einen elften Film wählen würde, dann könnte dieser “maximal“ (5000 – 4550) = 450 Stimmen und somit 5 weniger als die Konkurrenten erhalten.

Langer Rede, kurzer Sinn: Wenn ein Film die magische Grenze von 455 erreicht, dann ist er sicher nominiert. Ohne wenn und aber.

Punkt 2: Der Überschuss

Jetzt wird es richtig kompliziert: Die besagte Grenze von 455 wird mit 110% multipliziert, woraufhin wir 500,5 erhalten. Als Nächstes werden alle Filme gesucht, die mehr als 500,5 Erststimmen gesammelt haben. Und von diesen wiederum wird exakt ausgerechnet, wie groß der “überschüssige“ Stimmanteil ist.

Beispiel:Gravity hat exakt die doppelte Menge an notwendigen Erstplatzierungen erhalten, sprich (455 * 2) = 910. Jetzt schauen wir uns auf sämtlichen betreffenden Stimmzetteln den jeweils zweiten Platz an: Sollte der dort aufgeführte Film noch keine Nominierung sicher haben, dann erhält er nun eine halbe Stimme. Der Grund: Weil der erstgenannte Film doppelt so viele Stimmen bekam wie nötig, bräuchte er von jedem seiner Wähler quasi nur eine “halbe“, um trotzdem sicher nominiert zu sein. Entsprechend geht die andere Hälfte an den nächst platzierten Kandidaten.

Sollte der Film auf dem zweiten Platz genau wie der auf dem ersten bereits sicher nominiert sein, dann geht die halbe Stimme an den dritten Platz. Sollte dieser ebenfalls keine Schützenhilfe benötigen, dann kriegt sie der vierte Platz und im Zweifelsfalle der fünfte Platz.

Ein noch konkretes Zahlenbeispiel:12 Years a Slave erhält 1365 Stimmen und somit dreimal so viel, wie er eigentlich benötigt. Ergo reichen dem Film ein Drittel dieser Stimmen, weshalb die restlichen zwei Drittel an andere Filme übergehen können.

Nehmen wir weiterhin an, dass The Wolf of Wall Street300 Erstplatzierungen und Her150 gesammelt haben. Damit wären beide Filme nach dem jetzigen Stand nicht nominiert. Jedoch wird The Wolf of Wall Street bei 1000 der 12-Years-a-Slave-Stimmzetteln auf dem zweiten Rang aufgeführt und Her bei den restlichen 365. Der jeweilige Überschuss wird folgerichtig mit zwei Drittel multipliziert, was im ersten Fall einer “Punktzahl“ von 666,67 und im zweiten Fall einer von 243,33 entspricht. Und dieser “Überschuss“ wird sowohl The Wolf of Wall Street als auch Her auf die Menge ihrer jeweiligen Erstplatzierungen angerechnet. Sie hätten demnach 966,67 beziehungsweise 393,33 Punkte eingeheimst, woraufhin zumindest The Wolf of Wall Street locker die Grenze von 455 passiert und somit sicher nominiert ist.

Beim folgenden Punkt bin ich mir unsicher, weil sich hier die mir bekannten Erklärungen etwas widersprechen: The Wolf of Wall Street liegt nun ebenfalls deutlich über der 110%-Grenze von 500,5 Punkten. Entsprechend müsste der dort vorhandene Überschuss auf die gleiche Weise an die nächsten Platzierungen weitergegeben werden.

Punkt 3: Die 1%-Klausel

Sobald jedenfalls der gesamte Überschuss fix und fertig verteilt ist, wird es etwas leichter. Im Folgenden werden sämtliche Filme radikal aussortiert, die weniger als 1% von insgesamt 5000 möglichen “Punkten“ gesammelt haben. Sprich: Wer auf unter 50 Erststimmen inklusive der Überschusspunkte landet, der fliegt ein für allemal raus.

Auf den betreffenden Stimmzetteln wird jeweils der entsprechende Film durchgestrichen und geschaut, ob der Kandidat, der auf dem darunter liegenden Platz steht, noch im Rennen sowie nicht sicher nominiert ist. Falls dem so ist, dann erhält dieser die komplette Stimme bzw. den Überschuss. Ansonsten geht man zum nächsten Platz über und schaut, ob sich dort ein passender Kandidat finden lässt. Erst, wenn keiner der fünf genannten Filme etwas mit der Stimme/dem Überschuss anfangen kann, landet der Stimmzettel komplett im Mülleimer.

Punkt 4: Die 5%-Klausel

Erneut wird gezählt, wie viele Stimmzettel nach der letzten Runde übrig geblieben sind. Nehmen wir an, dass 100 Zettel wie eben beschrieben weggeworfen werden mussten. Demnach bleiben 4900 Zettel “übrig“, wovon man 5% errechnet. Das Resultat lautet 245.

Abschließend werden alle Filme disqualifiziert, die bis zu diesem Zeitpunkt auf weniger als 245 “Punkte“ kommen. Im Normalfall bleiben dabei fünf bis zehn Kandidaten übrig, was der von der Academy gewünschten “Best-Picture“-Menge entspricht.

Sollte es in der Tat passieren, dass nur vier oder gar noch weniger Filme übrig bleiben, dann wird die 5%-Klausel verworfen und das Kontingent mit den zuletzt disqualifizierten Filmen wieder aufgefüllt, bis zumindest fünf Filme nominiert sind. Sollte es andersherum passieren, dass MEHR als zehn Filme auf 245 Punkte kommen, dann wird die Menge entsprechend um die Mitbewerber mit den niedrigsten Punktzahlen gekürzt. Allerdings reden wir hier von zwei Szenarien, die rein statistisch gesehen praktisch niemals eintreten dürften.

Jetzt fehlt nur noch eine Frage:

Wozu der ganze Scheiß?

Warum wird nicht ein “simples“ Verfahren eingeführt, bei dem beispielsweise der erste Platz fünf Punkte, der zweite vier Punkte, der dritte drei Punkte, usw. erhält? Dafür gibt es mehrere Gründe, die in meinen Augen allesamt für das “komplizierte“ Verfahren sprechen.

1) Eine “simple“ Punkteverteilung kann dazu führt, dass Filme nominiert werden, die nicht eine einzige Erststimme erhalten haben – nämlich wenn sie auf vielen hinteren Rängen erwähnt werden. Das Problem ist jedoch, dass man nach einem “Sieger“ sucht. Und es wäre doch blöd, wenn ein Film als “Best Picture“ mit im Rennen wäre, obwohl er von keinem Mitglied explizit als “Best Picture“ genannt wurde. Durch das “komplizierte“ Verfahren hingegen wird dieses Problem nahezu ausgeschlossen, weil man ohne eine gesunde Menge an Erstplatzierungen praktisch keine Chance auf eine Nominierung hat.

2) Das System gewährleistet, dass so gut wie jeder Stimmzettel gleichwertig berücksichtigt wird. Sprich: Abgesehen von den Leuten, die fünf krasse Außenseiter gewählt haben, wird jede Stimme gleich gewertet. Bei einer klassischen Punkteverteilung hingegen würde es zu einem Ungleichgewicht kommen, weil z.B. Leute, die ausschließlich beliebte Filme genannt haben, bis zu 15 Punkte beisteuern, während bei anderen, die auch ein paar ausgefallenere Titel nennen, vielleicht nur fünf oder noch weniger letztlich zum Zuge kommen.

3) Das wichtigste Pro-Argument: Das komplizierte Verfahren stellt sicher, dass die Leute frei nach ihrem Herzen wählen können, ohne Angst haben zu müssen, dass sie ihre Stimme “verschwenden“. Nehmen wir an, Regisseur Hans Müller weiß ganz genau, dass sein Lieblingsfilm Der Berg ruft von kaum jemand gemocht wird, aber sein Zweitlieblingsfilm Terminator 4000 recht viele Fans hat.

Bei einer “simplen“ Punkteverteilung wäre es blöd, wenn Müller Der Berg ruft auf Platz eins wählt, weil er sich denkt: “Das hat keine andere Sau gewählt, also sind diese fünf Punkte verschwendet“. Ergo wäre es “besser“, wenn er Terminator 4000 entgegen seinen persönlichen Vorlieben ganz nach oben setzt, weil dieser Film schon eher etwas mit seinen Punkten anfangen kann.

Bei dem “komplizierten“ Verfahren hingegen muss Müller gar nicht erst taktieren: Er setzt Der Berg ruft einfach auf Platz 1 und Terminator 4000 auf Platz 2. Hat er mit seinem Gefühl recht und keine andere Sau neben ihm fand Der Berg ruft auszeichnungswürdig, dann geht seine komplette Stimme ohne Verlust an Terminator 4000 über. Jedoch vielleicht täuscht er sich und es gab doch mehr Fans von Der Berg ruft, die es nur nicht zugeben wollten. Und plötzlich ist ein kleiner Insidertipp nominiert, der sonst nie eine Chance gehabt hätte.

Aus diesem Grund belohnt das System ganz klar die Filme, die von “wenigen geliebt“ gegenüber Kandidaten, die von “vielen gemocht“ werden.