Kritik: Dallas Buyers Club

Es gibt diese Mär vom typischen “Oscar-Film“, der immer gewinnt. Inhalt sei entweder das große, geschichtsträchtige Epos (The English Patient, Amadeus) oder ein sozialkritisch-wichtiges Thema (Kramer gegen Kramer, Eine ganz normale Familie). Doch diese Zeiten sind längst vorbei, wenn man sich jüngere Gewinner wie The Artist, No Country for Old Men, Slumdog Millionär oder gar Der Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs anschaut. Den weiterhin bestehenden Vorurteilen zum Trotz waren die letzten zehn Best-Picture-Sieger erstaunlich variantenreich.

Etwas anders sieht es bei den Schauspielern aus, wo nach wie vor Interpretationen real existierender Persönlichkeiten (Meryl Streep in The Iron Lady), die kompromisslose Darstellung eines Charakters bis zur Körperdeformierung (Christian Bale in The Fighter) oder die Imitation eines sichtbaren Handicaps (Jamie Foxx in Ray) den entscheidenden Vorteil ausmachen kann. Matthew McConaughey hat in diesem Jahr einen Trumpf in der Hand, der all diese “Vorzüge“ vereint. Und in der Tat konnte man schon beim Ansehen des Trailers erahnen, dass der Mann in seinem Haus besser Platz für eine Vitrine schaffen sollte.

Im Jahre 1985 ist AIDS noch ein Schreckensgespenst. Es herrscht der landläufige Irrglaube, dass ausschließlich homosexuelle Männer betroffen seien. Als Ron Woodroof (eben gespielt von McConaughey) nach einem Arbeitsunfall im Krankenhaus landet und die Ärzte ihm sagen, er leide in einem weit fortgeschrittenen Stadium an der tödlichen Krankheit, winkt er noch ab. Das könne nicht sein, er sei schließlich keine “Schwuchtel“. Doch vom eigenen Gesundheitszustand übermannt, fängt er an sich zu informieren und stellt mit Schrecken fest, dass der Virus auch beim Sex mit einer HIV-infizierten Frau übertragbar ist.

Woodroof akzeptiert die Diagnose, nicht jedoch sein Schicksal. Er misstraut seinen Ärzten und sucht Hilfe bei einem Spezialisten in Mexiko. Dort bekommt er Präparate verschrieben, die in den USA nicht zugelassen sind. Als er merkt, dass sie bei ihm anschlagen und die Symptome seiner Krankheit zumindest eindämmen, sucht er nach Mitteln und Wegen, die betreffenden Medikamente an Leidgenossen zu verteilen. Weil er sie nicht direkt verkaufen darf, gründet er den Dallas Buyers Club: Jeder AIDS-Kranke, der die Mitgliedsgebühr von 400 Dollar bezahlt, bekommt “kostenlos“ sämtliche Präparate, die er benötigt.

Dallas Buyers Club ist ein Musterbeispiel für eine typische Filmbiografie. Sie erzählt eine reale Geschichte, orientiert sich dabei im weitesten Sinne an der Wahrheit, dramatisiert ab und an über und ignoriert ein paar Fakten, die vermutlich nur vom eigentlichen Thema abgelenkt hätten (z.B. dass der echte Woodroof Vater war). Ohne große Experimente zeichnet Regisseur Jean-Marc Vallée die Wandlung eines Mannes, der sich bis zur Diagnose wie ein “echter Kerl“ fühlt und übelst homophob ist. Erst aufgrund seines Schicksals offenbart sich ihm regelrecht eine neue Weltordnung, die er vorher nicht für möglich gehalten hätte.

Er freundet sich mit homosexuellen Männern an, allen voran dem ebenfalls an AIDS erkrankten Rayon (Jared Leto), und schaut gegen Ende des Filmes auch gar nicht mehr auf den potenziellen Profit seines Clubs. Frustriert aufgrund der Sturheit der inländischen Behörden sowie Ärzte möchte er “seine“ Medikation einfach nur an möglichst viele HIV-Patienten verteilen. Hier könnte man dem Film allenfalls vorwerfen, dass der Kontrast vom “bösen“ Woodroof zum “guten“ etwas arg auffällig ist und auch kein exaktes Abbild der realen Ereignisse von damals zu sein scheint.

Von den neun “Best-Picture“-nominierten Filmen des Jahrgangs 2013 ist Dallas Buyers Club der sechste, den ich gesehen habe, und der erste, den ich rein handwerklich betrachtet als rundherum solide sowie bodenständig bezeichnen möchte. Vallée eckt selten an, erzählt eine interessante Geschichte und profitiert maßgeblich von den Leistungen seitens McConaughey sowie Leto. Besonders ersterer spielt in einer eigenen Liga: Er hat sich sowohl körperlich wie charakterlich derart transformiert, dass man ihn nicht wiedererkennt. Bereits die ersten Szenen, in denen er Woodroof als harten Haudegen zeigt und aufgrund seiner fortgeschrittenen Krankheit einfach zusammenklappt, dürfte ihm den Oscar sichern.

Am Ende sind es Kleinigkeiten, die Dallas Buyers Club unter die Klasse eines 12 Years a Slave oder Gravity stellen. So manche Szene wirkt mir zu plakativ, frei nach dem Motto: Das muss jetzt noch irgendwie rein, auch wenn es gerade nicht so passt. Konkret beziehe ich mich auf einen kurzen Heulkrampf seitens Woodroof und auf die letzte Szene, deren Sinn ich zwar verstehe, aber die in meinen Augen trotzdem deplatziert wirkt. Ebenfalls störend ist Jennifer Garner als Dr. Eve Saks: Ihr Charakter passt optisch schlicht und ergreifend nicht in das ansonsten ruppige Umfeld hinein. Im Gegensatz zu McCounaghey und Leto sehe ich in ihr “nur“ eine Schauspielerin, die eine Rolle spielt (auch wenn sie das gut gemacht). Man könnte erneut argumentieren, dass eventuell die echte Dr. Saks in den 1980er Jahren bereits wie eine 2000er-Hollywood-Schönheit aussah. Doch das könnt ihr vergessen: Diese Figur haben die Drehbuchautoren Craig Borten und Melisa Wallack frei erfunden.

In einem Jahr wie 2013 hat Dallas Buyers Club keine Chance auf einen “Best-Picture“-Oscar – womit ich den Film jedoch keinesfalls schlecht reden möchte. Ich bin mir sogar sicher, dass aufgrund der Thematik und dem sehr guten Schnitt (bei dem ich mich im Nachhinein frage, wieso dessen Nominierung bei vielen Experten als Überraschung galt) das Ding unter einem reduzierten Kontingent von fünf “Best-Picture“-Kandidaten (so wie wir es bis 2008 gewohnt waren) ebenfalls dabei gewesen wäre. Dafür spricht, dass Dallas Buyers Club allen Anschein nach drei andere Oscars gewinnen wird: McConaughey und Leto sind die klaren Favoriten in den Haupt- wie Nebendarsteller-Kategorien, zudem winkt eine Statuette für Make-up und Haarstyling.

Ob Oscar oder nicht: Dallas Buyers Club sollte (wie überhaupt alle wirklich guten Filme) über solchem Award-Gedöns stehen. Jean-Marc Vallée wird damit zwar nicht unsterblich berühmt und die Kassen á la Gravity klingen lassen, jedoch auf lange Sicht einen guten Ruf unter Cineasten genießen. Und Matthew McCounaghey Darstellung als Ron Woodroof dürfte sich als unverrückbares Markenzeichen in seiner Biografie als Schauspieler manifestieren.

Oscar nominiert für: Bester Film, Bester Hauptdarsteller (Matthew McCounaghey), Bester Nebendarsteller (Jared Leto), Bestes Drehbuch (original), Bester Schnitt, Bestes Make-up & Haarstyling