Oscar-Analyse: Bester Dokumentarkurzfilm

Yeah, eine Premiere: Zum ersten Mal konnte ich alle fünf für einen Oscar nominierten Dokumentarkurzfilme sehen! Jubel! Trubel! Heiterkeit! … Ey, aufwachen, da hinten!

Vorweg: Wer mal so richtig schlecht drauf sein und die Welt hassen will, der schaut sich eben diese Kurzfilme an. Alle fünf behandeln sie ernste wie unliebsame Themen, über die wir am liebsten überhaupt niemals nachdenken wollen.

White Earth

Rein von der Thematik ist White Earth noch am “nettesten“ – denn hier geht es “nur“ um ein paar Kinder, die mit ihren Eltern in North Dakota leben und deren Väter auf verdreckten Ölfeldern arbeiten müssen. Freilich ist das kein schönes Zuhause, aber der Film suggeriert mir dies nicht so wirklich. Er lässt die Kinder zu Wort kommen, die beispielsweise das Thema Öl durchaus differenziert betrachten und nicht durchweg verteufeln.

Am Ende hat man nicht das Gefühl, der Ausbeutung der Ölindustrie ein Stück näher gekommen zu sein, sondern eher ein “Na ja – irgendwer muss den Job halt machen“. Deshalb ist White Earth in meinen Augen auch einer der schwächeren Dokumentarkurzfilme.

The Reaper

Schon bedeutend unangenehmer ist der Hintergrund von The Reaper, der den Alltag von Efrain beschreibt. Der Mann arbeitet seit 25 Jahren in einem Schlachthaus und tötet seither am Tag mehrere hundert Rinder. Der Film zeigt vornehmlich die ganze Maschinerie, die alt, verdreckt und überholt wirkt. Die Rinder werden durch enge Gänge geschleust und mit den Beinen an Haken gehängt. Bilder des eigentlichen Schlachtens spart sich der Film – allerdings zeigt er nicht zu knapp das Abtransportieren abgezogener Rinderhäuter oder das Durchschneiden großer Fleischbrocken.

Während diese Szenen auf ihre Weise “funktionieren“ (im Sinne von “verstörend“) verfehlt der Film seine Wirkung bezüglich Efrain. Gegen Ende wird er im Beisein seiner Familie gezeigt, wie seine Kinder sich fröhlich über den Essenstisch hermachen und er apathisch ins Leere schaut. Leider wirkt gerade dieser Moment gestellt anstatt ehrlich – da wäre es sehr interessant zu wissen, inwiefern die Dokumentarfilmer hier irgendwelche Anweisungen an Efrain gegeben haben.

Crisis Hotline: Veterans Press 1

Eine ähnlich unangenehme Aufgabe ist die der Mitarbeiter der folgenden Hotline: Sie nehmen tagtäglich Dutzende Anrufe von depressiven Kriegsveteranen oder deren Familienmitglieder an, in der Hoffnung sie vom Selbstmord abzuhalten. Die Prämisse ist schnell erklärt, weshalb der Film sich auf das Zeigen konkreter Beispiele stürzt. Dazwischen sprechen die Mitarbeiter miteinander, um das eben gehörte zu verarbeiten.

Crisis Hotline ist ein sehr interessanter Film, aber mit einem perversen “Makel“: Es wird von Anfang an suggeriert, dass die Hotline beileibe nicht immer erfolgreich sei und viele Anrufer ihren Suizid trotzdem vollziehen, was freilich wiederum die Mitarbeiter traumatisiere. Crisis Hotline zeigt jedoch einzig Beispiele, die “gut“ ausgegangen sind – zumindest soweit man sich das nach dem Anruf vorstellen kann. Und so sehr ich es auch verstehe, dass man keine “negativen“ Fälle dokumentieren wollte: Die Aneinanderreihung der Erfolge gaukelt mir eine falsche Realität vor – nämlich das jeder Anruf quasi in einem Happy-End mündet.

Aber wie gesagt: Ich kann verstehen, wieso die Dokumentarfilme sich gegen das “Ausschlachten“ eines tragischen Schicksals entschieden haben…

Joanna

Für Joanna Salyga gab es kein Happy-End: Die Frau starb 2012 im Alter von 36 Jahren an Krebs. Bereits zuvor konnten ihr die Ärzte nur ihren baldigen Tod ankündigen, eine Behandlung war nur gegen die Schmerzen und nicht gegen die Krankheit möglich. Joanna dokumentiert einen kurzen Zeitraum vor ihrem Tod und konzentriert sich auf das Verhältnis zwischen ihr und ihrem kleinen Sohn, der bald ohne Mutter auskommen muss.

Die Idee ist gut und die Ausführung rührend. Ihr fühlt schnell mit der Frau, die mehr Angst davor hat ihre Familie allein zu lassen als sterben zu müssen. Die meisten Szenen zeigen alltägliche Situationen zwischen ihr und dem Sohn, weshalb der Film nicht pausenlos auf die Tränendrüse drückt. Was auch gut so ist: Hier geht es nicht um das Erhaschen von Mitgefühl, sondern um den Fingerzeig darauf, wie man am besten mit solch einer ausweglosen Situation umgehen sollte. So tragisch es auch ist, dass der Sohn so früh ohne seine leibliche Mutter auskommen muss – Joanna macht klar, dass sie bis zum Schluss ihr bestmöglichstes geleistet hat.

Our Curse

Doch was ist noch viel schlimmer, als wenn ein Kind seine Mutter verliert? Richtig: Wenn der umgekehrte Albtraum droht. Tomasz Sliwinski und Magda Hueckel sind die jungen Eltern eines inzwischen vierjährigen Sohnes, der von Geburt an mit einem Beatmungsgerät leben muss und der jede Nacht an einer seltenen Krankheit namens Ondine’s Curse ersticken könnte. Sliwinski selbst hat sich und seine Frau in den ersten Tagen gefilmt, nachdem ihr neu geborenes Kind aus dem Krankenhaus entlassen wird.

Neben dem höchst verstörenden Geräusch des Beatmungsgerätes, wegen dessen ihr nie wieder über eine Darth-Vader-Imitation lachen möget, ist es vor allem der Austausch der Kanüle, die das Kind Tag ein, Tag aus am Hals tragen muss, was euch beim Anschauen von Our Curse richtig fertig macht. Schnell fragt man sich, wie sich die beiden so vollends für ihr Kind opfern und mit diesem immensen emotionalen Druck klar kommen können. Und hier steckt die eigentliche Größe des Filmes: Allein durch wenige Szenen am Ende, in denen die jungen Eltern freudig mit ihrem Sohn spielen, versteht ihr es.

Kurz und knackig: Our Curse ist um Meilen der beste Dokumentarkurzfilm, sowohl was die Brisanz der Thematik als auch die simple, wie effektive Ausführung anbelangt. Interessanterweise hat Sliwinski den Film ursprünglich nur für sich und seine Frau gemacht, damit die beiden besser mit ihrem Schicksal zurecht kommen. Das er den daraus entstandenen Kurzfilm auf Filmfestivals gezeigt hat und am Ende sogar bei der Academy einreichte, verdankte er der Überzeugungskraft eines Freundes. Und auch dieser Umstand wird zur Stärke, weil Our Curse somit vollkommen authentisch und ehrlich ist.

  1. Our Curse
  2. Joanna
  3. Crisis Hotline: Veterans Press 1
  4. White Earth
  5. The Reaper