Game #1: Shadow of the Colossus

001-Shadow_of_the_ColossusHersteller: Team Ico
Director: Fumito Ueda
Composer: Kow Otani
System: PlayStation 2
Jahr: 2005

Ich habe ein ernsthaftes Problem damit, wie Video- oder Computerspiele als Kunst bezeichnet werden. Wenn ich nur solch Lobpreisung beispielsweise über Okami oder The Last of Us lese, bekomme ich Hautausschlag – so sehr ich diese Titel auch schätze. Es kann nicht sein, dass die „Kunst“ in einem Spiel auf das optische Design oder eine clever erzählte Geschichte reduziert wird. Die „Kunst“ sollte im Spiel selbst begraben liegen. Und genau das ist die Krux: Ein Spiel sollte doch Spaß machen – oder etwa nicht? Braucht es wirklich ein This War of Mine, das mich nur noch weiter deprimiert, damit ich so etwas wie ein „kunstvolles Spiel“ in der Hand habe? Es scheint wie ein Paradoxon, diesen Anspruch der Kunst mit der Unbeschwertheit eines Spieles zu vereinen…

…und doch wurde das Dilemma in über dreißig Jahren immerhin ein einziges Mal in seiner Gänze gelöst.

Shadow of the Colossus ist unbeschreiblich gut. Es ist für mich wie eine wahre Liebe, die man nicht nur wegen ihrer Stärken sondern auch aufgrund ihrer Schwächen verehrt. Egal ob es die ruckelige Grafik oder die zickige Kamerasteuerung ist: Es sind Dinge, die dazu gehören und die Shadow of the Colossus für mich zu etwas besserem machen.

Aber warum ist das so? Weil das Spiel Kunst ist. Es ist eine Kunst, den Spieler durch eine leere, öde Landschaft zu schicken und ihn trotzdem damit zu faszinieren. Es ist eine Kunst, ihm nur ein Schwert und einen Bogen in die Hand zu drücken und doch mehr Abwechslung zu geben als dreißig Spiele zusammen. Es ist eine Kunst, ihm vorzugaukeln, er mache das Richtige, obwohl er genau das Falsche tut. Und es ist eine Kunst, den Spieler weiterhin zu motivieren, selbst wenn er das im Laufe des Abenteuers realisiert.

Wir reden hier schließlich nicht von einem „bösen“ Charakter, der bewusst die Welt vernichten will. Alles, was ihr tut, dient einem Zweck: eure Liebste wieder ins Leben zurück zu rufen. Es braucht keine große Erklärung, keine ausschweifenden Dialoge und keine ewig lange Einführung, warum man das tun sollte. Es reicht das Ablegen des leblosen Körpers auf einem steinernen Altar, der sofort klar macht: „Ich *muss* das tun. Und ich *werde* das tun.“. Da ist es zweitrangig, wenn die Stimme von Dormin so allmächtig und bedrohlich klingt.

Töte die 16 Kolossi: Es ist eine Kunst, ein Spiel auf Action und Geschicklichkeit zu reduzieren und in eine solche Epik zu verpacken. Allein die majestätische Größe, wenn ihr vor dem ersten Hünen steht, ist atemberaubend.

Es ist eine Kunst, eine völlig neue Form des Spieles mit altgedienten Mechanismen zu erschaffen. Was macht ihr schon? Laufen, klettern, reiten, springen, mit dem Bogen schießen und mit dem Schwert kämpfen. Doch die Plattform ist keine starre Landschaft, die Gegner keine kleinwüchsigen Kobolde. Es ist eine Kunst, wenn Feind und Umgebung identisch sind.

Ich habe bei einigen Spielen bereits geschrieben, dass es für mich zweierlei Arten von Hits gibt: Die geplanten und die überraschenden. Shadow of the Colossus ist vielleicht das einzige Spiel, das beides geschafft hat. Im Vorfeld faszinierte mich rein das Konzept, mit einem kleinen Männchen riesige Kolosse zu besteigen. Mir schwebte ein klassisches Plattformspiel vor, bei dem sich der Untergrund stetig bewegt – und keine Achterbahnfahrt der Gefühle.

Ich kenne keine Geschichte, die allein aufgrund ihrer dezenten Erzählweise derart perfekt ist. Der Held trauert um seine Geliebte, reitet mit ihrem Leichnam in ein fernes Land und bittet ein mächtiges Wesen um Hilfe, sie wiederzubeleben. Dieses willigt ein, jedoch nur, wenn er die 16 Kolossi besiegt, die ihn gefangen halten. Also macht sich der Held auf, mit seinem Pferd durch weite, einsame Steppen, Berge und Felder zu reiten. Er sucht einen Koloss nach dem anderen auf und wird aufgrund ihrer Einzigartigkeit jedes Mal aufs neue geblendet und gefordert. Er muss sowohl die Schwachstellen des Koloss finden als auch überlegen, wie er zu ihnen gelangt. Denn nur der erste Hüne ist derart „simpel“, dass der Held einfach über sein behaartes Fell vom Fuß auf den Kopf klettert.

Shadow of the Colossus vereint nahezu alles, was ein Spiel grandios machen kann: Das Konzept ist innovativ, das Leveldesign herausragend und der Grad der Abwechslung allein durch die völlig unterschiedliche Natur der Kolossi immens. Der eine trägt ein riesiges Steinschwert, der andere fliegt durch die Lüfte, der nächste schwimmt im Sand der Wüste, der folgende lebt unter Wasser, und so weiter und so fort. Gleichzeitig bleibt das Spielsystem überschaubar, eben gerade weil euch die Spielmechanik nicht mit hunderten von Waffen oder Features zumüllt. Es gibt einen Helden, ein Pferd, ein Schwert und einen Bogen – mehr braucht es nicht.

Über all dem ragt eine Atmosphäre, die unerreicht und einfach unbeschreiblich ist. Das ist mein Ernst: Ich kann das nicht in Worte fassen – dass muss jeder selbst erlebt haben. Tief im Inneren steckt weitaus mehr dahinter, als das ein „Held“ gegen „Kolossi“ kämpft. Allein die Tragik, die sich bis zum Ende entwickelt, ist gleichzeitig niederschmetternd und inspirierend. Es ist derart schwer, dem Spieler zu suggerieren, dass seine Taten vielleicht nicht so ganz richtig sind, und ihn trotzdem zu motivieren, weiterzumachen. Fumitso Ueda schafft dieses Kunststück wie kein anderer Regisseur.

Ja, ich habe Shadow of the Colossus nur viermal durchgespielt – und zweimal allein wegen des Videos. Es ist auch gar nicht notwendig, dass man es wie immer mal wieder spielt. Der Grund, warum ich es nach reiflicher Überlegung über alles andere stelle, was ich je gespielt habe, ist der nachhaltige Eindruck. Kein anderes Spiel hat mich derart geformt. Kein anderes Spiel hat mich über so viele Jahre hinweg auf solch eine Weise verfolgt. Allein wenn ich an das Ende denke, zerreißt innerlich alles in mir.

Ich habe zwanzig Jahre lang Doom als mein persönliches Lieblingsspiel bezeichnet – und somit auch knapp zehn, in denen ich bereits Shadow of the Colossus kannte. Genau genommen „startete“ das Spiel zunächst irgendwo auf den Plätzen elf bis zwanzig. Erst im Laufe der Zeit realisierte ich, was mir Fumitso Ueda angetan hat. Es brauchte ein Weilchen bis ich wirklich kapierte, dass Shadow of the Colossus in vielerlei Hinsicht das „Beste“ ist, was ich je erlebt habe.

Zu guter Letzt eine Rückblende: Ich schrieb bezüglich Resident Evil 4, das im gleichen Jahr ein Titel erschienen sei, der die Branche insgeheim auf den Kopf gestellt hat. Damit meinte ich Shadow of the Colossus, weil es für mich den Beginn darstellt, in denen Spiele in der Tat so etwas wie „erwachsen“ wurden. Plötzlich ging es nicht mehr nur um geile Grafik, tolle Story oder ein ausgeklügeltes Design. Shadow of the Colossus sorgte für Inspirationen, für Emotionen und für eine völlig neue Sichtweise, was mit diesem Medium wirklich möglich ist. Es ist in meinen Augen der wahre Startpunkt der Indieszene, weil es sich etwas unglaublich Wagemutiges getraut hat. Und das „auf den Kopf stellen“ bezieht sich auf die Trennung zwischen dem Feierabendzocker, der weiterhin seine Grafikorgie zelebrieren und dabei nicht allzu viel nachdenken möchte – und dem versierten, euphorischen sowie aufgeschlossenen Vollblutzocker, der jeden Tage etwas wirklich Neues entdecken möchte.

 

 

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