Hersteller: Daedalic Entertainment
Creative Lead: Jan Müller-Michaelis
Project Lead: Daniel Schäfer
Composers: Thomas Höhl, Tino Müller & Jan-Peter Pflug
System: PC
Jahr: 2011
Meine Begeisterung über Harveys Neue Augen lässt sich mit einem Wort zusammenfassen: Zensurgnome. Der Nachfolger von Edna bricht aus überraschte bereits im Vorfeld mit einem neuen Hauptcharakter namens Lilli, einem schüchternen Mädchen, das in einer Klosterschule aufwächst und keinen klaren Satz von sich gibt. Schikaniert von ihren Mitschülern und der überfiesen Oberin Ignatz, ist einzig die aus der Anstalt ausgebrochene Edna ihr eine wahre Freundin. Doch die versteckt sich natürlich vor Dr. Marcel, der die Schule urplötzlich besucht und ihr anscheinend dicht auf den Fersen ist…
Normalerweise steuert ihr in einem Spiel einen Charakter, der ein klares Ziel vor Augen hat. Lilli ist insofern anders, weil sie sämtliche Aufgaben vorgekaut bekommt. Selbst Edna handelt in ihrem eigenen Interesse, indem sie Lilli um die Vernichtung sämtlicher Hinweise bittet, die ihren Aufenthaltsorte verraten könnten.
Dabei passiert zwangsläufig ein bizarres Unglück nach dem anderen, aufgrund dessen sämtliche Mitschüler ums Leben kommen. Der eine wird von Ameisen gefressen, der zweite von einer Steinfigur erschlagen, der dritte bei einer Explosion zerfetzt, und so weiter und so fort. Was in aller Regel für unschöne Bilder sorgt, wird durch die grenzgeniale Idee der Zensurgnome entschärft und gleichzeitig aufs Korn genommen. Die lustigen Gesellen sind nämlich überall dort zur Stelle, wo jugendgefährdende Bilder auf euch warten. Die betreffenden Stellen werden dann einfach mit rosa Farbe übertüncht – und schon freut sich die USK.
Auch das Rätseldesign ist stellenweise brillant, speziell wenn es das Adventure-Genre aufs Korn nimmt. So müsst ihr einen Ballon ergattern, der an einem Kronleuchter festhängt. Direkt darunter hockt ein als Clown verkleideter, frustrierter Kindertherapeut. Er bietet euch an, aus einem Luftballon eine lustige Figur zu formen. Unter den Wünschen, die ihr ihm nennen könnt, gehört bizarrerweise ein Schraubenschlüssel. Den erhaltet ihr auch sogleich, woraufhin ihr den Kronleuchter von der Decke hebelt und nebenbei den armen Clown ins Jenseits schickt.
Wie bitte? Was sagt ihr da? Das ist schwachsinnig und total unlogisch, weil man mit einem aus einem Luftballon geformten Schraubenschlüssel nie und nimmer die dicken, fetten Muttern eines überschweren Kronleuchters aushebeln kann? Genau das ist der Gag: Ja, das geht nicht. Und doch probiert es jeder aus und freut sich königlich, weil es in der Tat funktioniert.
Genau wie Edna bricht aus wird gegen Ende aus dem schwarzen Humor bitterer Ernst. Denn die Zensurgnome sind nicht nur für den Spieler da, sondern auch um Lillis zarte Seele zu schützen. Man möchte sich kaum vorstellen, wie sich ein Kind fühlt, wenn es realisiert: Ups, ich hab gerade meine Mitschüler gemeuchelt…
Die Geschichte von Harveys Neue Augen spielt subtil mit der Diskrepanz zwischen Realität und Wunschdenken. Nicht umsonst wird das Spiel von einem Erzähler kommentiert, der mit seiner Stimmlage eher an ein Märchenhörspiel erinnert. Er sorgt für die nötige Distanz zu Lilli, weshalb ihr euch nicht direkt mit ihr identifiziert und sie wie einen Außenstehenden betrachtet. Anders würde die Schlusspointe nicht funktionieren, weil ihr euch sonst wie ein Idiot vorkommen würdet.
All das formt Harveys Neue Augen zu einem genialen Point’n’Click-Adventure. Es ist meines Erachtens eines von zwei aus dem Hause Daedalic, das qualitativ mit den Legenden von LucasArts mitziehen kann und darüber hinaus sogar ein gutes Stückchen innovativ ist.
