Kritik: Gravity

Wenn du so viele Filme gesehen hast, wie ich, dann wird es schwer mit den Superlativen. Das Bild ist gezeichnet, die Liste mit den Personal Favorites wie in Stein gemeiselt. 16 Jahre lange hatte ich einen unverrückbaren Lieblingsfilm: James Camerons Titanic. Ich habe ihn zu einem Zeitpunkt gesehen, als ich nichts wusste. Und wenn man so ein Epos völlig ohne Erwartungen am Ende seiner Teenagerära erlebt, dann ist das etwas ganz besonderes. Ein unbeschreibliches Gefühl, das nicht zu toppen ist.

Was soll ich über Gravity schreiben, was nicht schon längst geschrieben wurde? Jeder weiß, worum es geht – und die meisten, wie es endet. Matt Kowalski, ein versierter Astronaut (gespielt von George Clooney), und Dr. Ryan Stone, eine Medizintechnikerin (dargestellt von Sandra Bullock), befinden sich im Weltraum. Während einer harmlosen Wartungsarbeit empfängt ihre Station eine Nachricht, nach der ein Satellit zerstört wurde. Wird diese Meldung noch belächelt, herrscht sogleich Panik, als der Schrott eine Kettenreaktion auslöst und weitere Gerätschaften zu Bruch gehen. Kowalski und Stone sollen alles stehen und liegen lassen, jedoch ist es bereits zu spät: Ein Hagelsturm voller Metallteile zerstört die Station und kappt zudem Stones Verbindungsschlauch. Eben noch auf einer eigentlich harmlosen Mission unterwegs, rotiert sie völlig hilflos durch das All. Ihr Ende scheint besiegelt.

Achtung, Spoiler: Minuten später wird sie von Kowalski aufgegriffen und zurück gebracht. Jedoch müssen die beiden mit Entsetzen feststellen, dass sie die einzigen Überlebenden der Crew sind und die Station völlig zerstört ist. Ihre einzige Chance auf eine Rückkehr zur Erde ist die nahe gelegene ISS, zu der sie irgendwie gelangen müssen. Ganz zu schweigen von der Distanz, welche es zu überbrücken gilt, sitzt den beiden ein unbarmherziges Zeitlimit im Nacken. Denn der Schrott rotiert alle 90 Minuten einmal um die Erde und droht folgerichtig weitere Zerstörungen zu verursachen.

Die Geschichte ist simpel, der Film dauert anderthalb Stunden und abseits von Sandra Bullock sowie George Clooney bekommt ihr keinen weiteren Schauspieler zu Gesicht. Was sich wie ein zum Scheitern verurteiltes Experiment anhört, entpuppt sich als ein unbeschreiblicher Ritt. Sie müssen Alfonso Cuarón für wahnsinnig gehalten haben, als er zum ersten Mal von der Vision erzählte, die er gemeinsam mit seinem Sohn Jonas erdachte. Der Film zeigt fast ausschließlich Szenen im Weltraum, die zu einem großen Anteil aus dem Computer stammen. Das mag für einen Laien faul klingen, jedoch merkt der erfahrene Filmkenner in jeder Minute, welch akribische Arbeit schon im Vorfeld der eigentlichen Dreharbeiten geleistet werden mussten.

Cuarón ist spätestens dank Childen of Men für seine langen Szenen ohne erkennbaren Schnitt berühmt, aber was er hier in Gravity abliefert ist unvergleichlich. Bereits die erste Viertelstunde vom ersten Dialog über den Einschlag und bis zum Abdriften Stones ist nahtlos. Die Kamera fährt wilder als jede Achterbahn und schiebt sich an einer Stelle sogar von außen in Stones Raumanzug hinein sowie wieder zurück. Ich will nicht wissen, welch Nerven allein dieser kurze Moment bei allen Beteiligten (egal ob Regisseur, Schauspieler, Kameramann oder Tonabmischer) gekostet hat, bis er so perfekt gewesen ist.

Normalerweise stellt das Drehbuch einen wesentlichen Ankerpunkt für einen wirklich guten Film dar. Gravity ist eine der ganz seltenen Ausnahmen, bei denen ich sogar so weit gehen würde, dass intelligentere Dialoge oder ein tiefer greifender Plot eher gestört anstatt geholfen hätten – genau wie damals in Titanic, nebenbei bemerkt. Es geht schlicht und ergreifend um einen Überlebenskampf, der den Zuschauer in seinen Sitz brennen soll. Cuarón verzaubert uns an einer Stelle mit wahnsinnig schönen Bildern, wenn er die Leere des Weltraums mit dem Lichtspiel der Sonne vermischt, und reißt uns an anderer Stelle mit der nächsten Katastrophe brutal aus unseren Träumen. Natürlich lässt sich die Glaubwürdigkeit anzweifeln und freilich ist nicht alles wissenschaftlich wasserdicht, was Gravity zeigt. Aber es ist Gott verdammt nochmal ein Film, dessen einziger Sinn es ist, uns in seinen Bann zu ziehen. Zudem überwiegen die Stimmen, die Cuarón für seine erstaunlich akkurate Recherche loben anstatt für die paar Fehler, die er gemacht hat, tadeln.

Dass Gravity nur auf einer großen Kinoleinwand und der bestmöglichen 3D-Technologie in vollem Maße einschlagen kann, ist genauso logisch. Lästerer behaupten, der Film verliere auf DVD und dem heimischen Bildschirm seine Magie. Ja, und? Ein Vom Winde verweht dürfte auch all jene enttäuscht haben, die ihn erstmals auf den in den 1950er Jahre üblichen Schwarz-Weiß-Bildschirmen zu Gesicht bekamen. Dann braucht es halt das entsprechende Equipment und sollte dieses nur im örtlichen Kino vorhanden sein, dann geht man eben dort hin. Die Belohnung erfolgt in Bildern, die ihr nie vergessen werdet.

Ein probates Mittel, sich das Erlebnis ins Gedächtnis zurück zu rufen, ist der Kauf des Soundtracks. Steven Price hatte eine besonders schwere Aufgabe zu bewältigen, wozu ich etwas ausholen muss: Normalerweise sind Weltraum- oder Science-Fiction-Filme geprägt von krachenden Soundeffekten, beispielsweise beim Abfeuern eines Lasers oder dem Explodieren eines Raumschiffes. Nun motzen Sci-Fi-Fans bereits seit einer gefühlten Ewigkeit, dass in Wahrheit im All kein Schall übertragen werde und man deshalb eigentlich gar nichts hören dürfe. Cuarón wollte dieser Tatsache gerecht werden und beschränkt die Toneffekte in Gravity rein auf das, was Stone und Kowalski über den Funkverkehr kommunizieren oder im Inneren einer Station zu hören ist.

Nun ist die Realität in aller Regel nicht so packend wie ein Film, weshalb das Fehlen von knackigen Soundeffekten sofort unangenehm auffallen würde. Cuarón setzte deshalb auf einen interessanten Kniff: Er beorderte Steven Price damit, die Musik so komponieren, dass sie einerseits melodisch erklingt und andererseits durch geschickte Synthi-Tricks die Effekte ersetzt. Ein einfaches Beispiel ist das kurze Aufdrehen der Lautstärke, was im Film äußerst effektiv ist und auf dem Album sofort eure Erinnerungen an das Visuelle weckt. Das Ergebnis ist für mich derart aufwühlend und mitreißend, wie ich es noch nie bei einem anderen Film erlebt habe.

Normalerweise hätte ein Film wie Gravity keine Chance bei den Oscars – noch nie hat ein Weltraum- oder Science-Fiction-Film den “Best-Picture“-Jackpot gewonnen, stets blieb es bei Preisen für Effekte, Sound oder im besten Falle Filmschnitt. Doch Gravity hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber Star Wars, Apollo 13, Aliens oder gar 2001: Sandra Bullock. Was hat diese Frau für böse Blicke geerntet, nachdem sie für The Blind Side den Academy Award vor Carey Mulligan, Gabourey Sidibe und Meryl Streep einsackte. Angeblich habe sie selbst danach gesagt, sie müsse sich diese Ehre nachträglich verdienen. Und so sympathisch ich Sandra empfinde und so sehr ich zu den wenigen Leuten gehöre, die ihr den Oscar allein für ihren herrlichen Umgang mit dem Awardzirkus gegönnt habne: Ich hätte ihr nie im Leben DAS hier zugetraut. Niemals.

Ihr Charakter Ryan Stone ist genau wie der Film simpel gezeichnet. Der Zuschauer erfährt nur wenig aus ihrem Leben, was dafür umso schicksalsträchtiger klingt. Sie ist einerseits tief verunsichert und tut andererseits in den entscheidenden Momenten dann doch genau das Richtige, ohne dass es wie Heldentum aussieht. Ryan Stone mag zwar eine kluge Wissenschaftlerin sein, aber im Weltall ist sie ein Frischling, der nach einer äußerst kurzen Ausbildung durch die Stratosphäre geschossen wurde. Sie ist geprägt von zwei Paradoxen: Sie wird schnell panisch, gewinnt aber rasch wieder die Contenance. Zudem wirkt sie aufgrund ihrer Vergangenheit lebensmüde, besitzt jedoch trotzdem einen instinktiven wie unbändigen Überlebenswillen. Es bedarf einer Weltklasseleistung, solch einen Charakter glaubwürdig und nicht nervig auf die Leinwand zu bannen. Und Bullock hat genau das geschafft – nahezu ohne Kulisse und zum Teil sogar ohne Blickkontakt zu ihrem Counterpart George Clooney.

Ob Gravity in der Tat den Clou bei den Oscars packt? Ich trau mich kaum mehr, es auszusprechen. Alles, was dagegen spricht, sind statistische Vorurteile. Laut Insidern sei die Academy restlos begeistert und solch Größen wie Steven Spielberg fragen sich ernsthaft, wie Cuarón DAS geschafft habe. Vier Jahre Produktionszeit sind es gewesen – und die Mühen haben sich durch die Bank gelohnt, dafür sprechen der Erfolg bei den Kritikern und an den Kinokassen.

Nach reiflicher Überlegung und über 16 Jahren ist es Zeit für eine Wachablösung. Oh je, oh je… ab hier gibt es kein Zurück mehr und es bedeutet mir mehr das zu schreiben, was ich gleich schreiben werde, als ihr denkt. Aber ich glaube, dass es das Richtige ist, wenn ich unter dem Hören von Shenzou und der zugehörigen Schlussszene im Kopf behaupte:

Es gibt keinen Film, der mir jemals besser gefallen hat als Gravity.

Oscar-Nominierungen: Bester Film, Best Regie (Alfonso Cuarón), Beste Hauptdastellerin (Sandra Bullock), Bester Filmschnitt, Beste Musik, Beste Tonabmischung, Beste Toneffekte, Beste Visuellen Effekte, Bestes Produktionsdesign, Beste Kamera.