Kritik: American Hustle

Was macht eigentlich einen guten Regisseur aus? Viele denken spontan an Auteure mächtiger Epen (David Lean), spannender Plotentwicklung (Alfred Hitchcock) oder wegweisender Bildgewalt (Stanley Kubrick). Doch wie haben dann so Leute wie Robert Redford, Robert Benton oder James L. Brooks einen Oscar für die beste Regie eingeheimst? Das englische Wort “Directing“ hilft zur Auflösung: Es geht letztlich um ein “in die richtige Richtung lenken“ – und Redford, Benton sowie Brooks haben genau das zu ihren Hochzeiten geschafft: nämlich bei den Schauspielern.

Irving Rosenfeld (Christian Bale) war schon von Kindheitstagen an ein Betrüger. Für seinen Vater, einen Glaser, schmiss er Fensterscheiben ein, damit es Aufträge rollte. Inzwischen zieht er verzweifelnden Leuten ihr letztes Geld aus der Tasche und gaukelt ihnen vor, er könne ihnen lukrative Kredite verschaffen. Er lernt Sydney Prosser (Amy Adams) kennen, die sowohl seine Geliebte als auch Partnerin im “geschäftlichen“ Sinne wird. Schnell wird klar, dass zwischen den beiden eine Seelenverwandtschaft jenseits der gängigen Moralvorstellungen herrscht.

Doch der Schwindel fliegt auf: FBI-Agent Richie DiMaso (Bradley Cooper) gibt sich zunächst als Kunde aus und verhaftet Prosser, als sie seinen fatalen Scheck annimmt. So kann er es sich erlauben, Rosenfeld unter Druck zu setzen: Das Gauner-Pärchen würde mit einem blauen Auge davon kommen, wenn es ihm dabei helfe möglichst hochrangige Politiker direkt nach einer erfolgten Bestechung zu schnappten. Dass dabei auch DiMaso einige moralisch höchst zweifelhafte Mittel anwendet und er die ins Visier genommenen Personen mit einer bewusst inszenierten Falle zu ködern versucht, macht den Clou umso brisanter.

American Hustle basiert auf einer wahren Begebenheit – so in etwa, jedenfalls. Bereits die erste Texteinblendung sorgt für Schmunzeln, denn laut derer seien nur “einige Ereignisse“ wirklich passiert. Sprich: Auch wenn es diesen sogenannten Abscam-Skandal wirklich in den 1970er Jahren gab, so hat Regisseur und Co-Drehbuchautor David O’Russell verdammt viel geändert. Von den Namen über das Alter bis zum Ende stimmt eigentlich gar nichts mehr abseits der rudimentären Prämisse.

Mit ein Grund für die radikale Abkehr zur Realität ist die hohe Narrenfreiheit, die O’Russell seinen Schauspielern gewährt. Diese sollen angeblich in einigen entscheidenden Szenen frei improvisiert haben, weshalb Christian Bale irgendwann besorgt gefragt habe, ob das nicht den grundlegenden Plot über den Haufen werfe. O’Russells Antwort: Das wäre ihm egal, ihm ginge es rein um die Charaktere.

Und das Ergebnis spricht für sich: Bale, Adams, Cooper, Jeremy Renner (der einen der hochrangigen Politiker spielt) und Jennifer Lawrence (die frustrierte und betrogene Ehefrau von Rosenfeld) formieren eines der besten Schauspielerensembles der Neuzeit, das abseits von Renner zurecht kollektiv bei den Academy Awards in der ersten Reihe sitzen darf. Bale brilliert vor allem mit einer fantastischen Gesichtermimik und dem Mut zur Hässlichkeit. Adams ist sexy, verrucht, ängstlich, undurchschaubar, clever und überhaupt alles zusammen. Cooper hat die besten Ausraster und sprüht nur so vor Energie. Und dann ist da Jennifer Lawrence: Meine Güte, die Frau ist gerade mal 23 und sie hat bereits jetzt Charakterzüge perfekt auf Lager, wofür doppelt so alte Kolleginnen für Sterben würden. Sie kann wettern, sie kann heulen, sie kann feiern und sie schafft wie keine Zweite die Gratwanderung zwischen äußerlichem Selbstbewusstein sowie innerlichen Zweifeln. Ihr könnte man höchstens vorwerfen, dass viele Charakterstärken ihrer Rolle aus Silver Linings sehr ähneln – weshalb ihre Leistung wohl nicht in einem zweiten Oscar resultieren wird.

Aber auch das gehört zur ungewöhnlichen Realisierung des Films, denn O’Russell hat die Rolle von Lawrence bereits vor Drehbeginn aufgebläht und an die Fähigkeiten der talentierten jungen Dame angepasst. Zudem gehört laut IMDB-Trivia ihre stärkste Szene, ein Streit mit Christan Bale im letzten Drittel des Filmes, genau zu jenen, in denen die Schauspieler heftigst vom Skript abwichen und den Plotverlauf komplett improvisiert haben sollen. Kreativität besitzt Lawrence demnach auch noch – ich gebe ihr noch zehn Jahre und sie sitzt im Regiestuhl.

Auf das Lob folgt der Tadel: American Hustle hat von allen mir bislang gesichteten Best-Picture-Kandidaten 2013 (um genau zu sein fehlt nur noch einer) die größten Schwächen zu vermelden. Versteht mich nicht falsch: Der Film ist unterm Strich toll und macht sehr viel Spaß. Aber gerade der Anfang zieht sich und die Dialoge wollen einfach nicht aufhören. Besonders die Inszenierung der Liebesgeschichte zwischen Rosenfeld und Prosser ist viel zu lang und langatmig geraten. Die Phase, in der ich mich ernsthaft fragte “…und das soll ‘ne Komödie sein…?“ dauerte noch länger an als beispielsweise in Silver Linings. Deshalb braucht es gerade im Mittelteil etwas Geduld. Wer die jedoch aufbringt, der wird mit einigen herrlich bekloppten Szenen belohnt, die gerade aufgrund ihrer dezenten Anwendung derart reinhauen.

Bezüglich des Oscar-Rennens droht American Hustle eine Vollpleite: Trotz zehn Nominierungen hat der Film keinen Preis sicher und gilt ganz im Gegenteil in praktisch allen Kategorien als undankbarer “Zweiter“ oder “Dritter“. Wie angedeutet: Hätte Lawrence nicht schon im letzten Jahr gewonnen, dann hätte sie diesmal den Goldjungen sicher. Doch in dem Alter, zwei Oscars? Nein, das passiert nicht.

Bale wird von vielen als das “schwache Glied“ der vier nominierten Schauspieler gesehen, was ich persönlich überhaupt nicht nachvollziehen kann… aber gegen Matthew McCounaghey, Leonardo DiCaprio oder Chiwetel Eijor hat er wirklich Null Chancen. Für Adams spricht der “…die ist langsam überfällig“-Faktor, allerdings hat gerade bei den Besten Hauptdarstellerinnen Cate Blanchett so derart die Nase vorn, wie Gravity im Bereich der Visuellen Effekte. Und Cooper? Ich würde es ihm so gönnen, gerade nachdem er in meinen Augen das Highlight in Silver Linings war und ausgerechnet gegen Daniel Day-Lewis Lincoln-Interpretation antreten musste. Aber auch in diesem Jahr steht ihm ein unverrückbarer “Frontrunner“ namens Jared Leto im Weg.

Filmschnitt, Kostüme und Produktionsdesign sind nicht auffallend genug für einen Oscar. Regie? In einem anderen Jahr vielleicht, aber nicht gegen Cuaron (Gravity) oder McQueen (12 Years a Slave). Bleiben abseits von Best Picture noch das Originaldrehbuch, dem einzig realistischen Gewinn. David O’Russell, der in vier Jahren und drei Filmen eine Renaissance wie kein zweiter Filmemacher feierte, könnte mit dieser Kategorie endlich seinen längst verdienten Academy Award nach Hause nehmen. Das Problem: Sollte man ihn wirklich für ein Skript auszeichnen, das voller von den Schauspielern interpretierter Passagen steckt, an einigen Stellen zur Laberlastigkeit tendiert und laut den schärfsten Kritikern eben aufgrund der vielen Improvisationen unterm Strich keinen Sinn mache (ein Aspekt, den ich nicht teile, aber die Stimmen diesbezüglich sind so laut, dass ich sie nicht unter den Teppich kehren möchte)? Zudem O’Russell mit Spike Jonzes Her einen mächtigen Konkurrenten schlagen müsste, der ihm bereits den Golden Globe und den Writer Guild Award wegschnappte.

Derzeit sieht es wirklich danach aus, dass American Hustle die Rolle von Gangs of New York oder The Color Purple einnimmt: null Gewinne trotz zweistelliger Oscar-Nominierungen. Und das obwohl der Film wunderbar zeigt, wie eine einwandfreie Regieleistung ohne Prunk und ohne Bombast auszusehen hat. Einfach, indem man seinen Schauspielern die Freiheit und die Selbstsicherheit gibt, ihre maximale Leistung zu zeigen. Gäbe es doch bloß einen Oscar für das Beste Ensemble: Den hätte American Hustle für die letzten zwanzig Jahren sicher gehabt.

Oscar nominiert für: Bester Film, Beste Regie (David O’Russell), Bester Hauptdarsteller (Christian Bale), Beste Hauptdarstellerin (Amy Adams), Bester Nebendarsteller (Bradley Cooper), Beste Nebendarstellerin (Jennifer Lawrence), Bestes Drehbuch (original), Bester Schnitt, Beste Kostüme, Bestes Produktionsdesign