Kritik: The Wolf of Wall Street

Martin Scorsese ist 71 Jahre alt. Viele Top-Regisseure haben ab einem bestimmten Zeitpunkt entweder ihren “Zenit“ überschritten und dabei ihre “Magie“ verloren (von Alfred Hitchock bis James L. Brooks) oder sich in eine Richtung entwickelt, die sie weit von den Kultwerken entfernte, mit denen sie berühmt wurden (Steven Spielberg, James Cameron). Auch bei Scorsese schien mit The Aviator oder Hugo eine Kehrtwende in Sicht, doch jetzt ist allen klar: Den einen hat er wirklich nur für den Oscar gemacht und der andere war tatsächlich die späte Liebeserklärung an seine (damals) elfjährige Tochter sowie deren Lieblingslektüre.

The Wolf of Wall Street ist einfach nur kaputt. Der Film ist eine bizarre Mischung aus Goodfellas und einer dieser modernen Komödien aus dem Hause Judd Apatow (Regisseur von Beim Ersten Mal, Produzent von Superbad). In den Händen eines jeden anderen Auteur würde diese Mischung keinen Millimeter funktionieren, doch wir reden hier von Scorsese. Gleichwohl ich lange Zeit gebraucht habe, die Unantastbarkeit dieses Mannes zu verstehen, so erschlägt sie mich in The Wolf of Wall Street. Meine Güte, was ist das für ein geiler Film. Und das Wörtchen “geil“ ist doppeldeutig zu unterstreichen.

Jordan Belfort (gespielt von Leonardo DiCaprio) giert nach dem großen Geld. Er steigt als junger Mann in die Welt der Börsenmakler ein, landet gleich nach Abschluss seiner Ausbildung dank eines fetten Börsenkrachs auf der Straße, mogelt sich mit den lukrativen Verkaufsprovisionen ominöser Pennystocks-Aktien zurück nach oben, gründet seine eigene Maklergesellschaft Stratton Oakmont, präsentiert sich dort als übermächtiger Motivationstrainer, feiert millionenschwere Orgien, hyped den Börsengang eines befreundeten Schuhdesginers, versucht sein Vermögen über dubiose Methoden in die Schweiz zu schmuggeln und… STOP!!!!

Kommt ihr noch mit? Ist euch das zu schnell? Sorry, das ist The Wolf of Wall Street: Der Plot wird in einem derart rasanten Tempo entwickelt, was man bei einer Filmlänge von satten 180 Minuten gar nicht vermuten würde. Nur in wenigen Szenen lässt sich Scorsese Zeit, diverse Schlüsselereignisse vollends auszukosten – und das dann richtig. Kein Wunder: Die Geschichte beruht auf den Memoiren des real existierenden Jordan Belforts, die erstaunlich akkurat umgesetzt seien. Demnach habe sich der Mann praktisch den ganzen Tag über mit Drogen aufgeputscht, was Scorsese sichtlich zu diesem surrealen Filmrausch animierte.

Das Resultast ist von den letzten zwanzig Minuten abgesehen herrlich komisch. Was Belfort und seine Freunde hier für Dinger abziehen, ist einfach krank. Kleines Beispiel gefällig? In einer kurzen Vorblende, die den Charakter Belforts fachgerecht vorstellen soll, schnieft Leonardo DiCaprio einer nackten wie vor ihm knienden Prostituierten Koks aus ihrem Hintern. Bereits in den ersten zehn Minuten deutet Scorsese knallhart an, was den Zuschauer erwartet: Sodom und Gomorra in Reinkultur.

Die große Kunst des Filmes liegt nicht nur in der kompromisslosen Regie begraben, sondern auch in Leonardo DiCaprios umwerfender Darstellung. Egal ob er am Telefon wertlose Aktien an ahnungslose Käufer vertickert, mit den härtesten Drogen zugedröhnt in seinen weißen Lamborghini zu kriechen versucht oder sich beim Streit mit seiner Filmehefrau (gespielt von Margot Robbie) wie ein kleines Kind benimmt: DiCaprio steuert immer mit Volltempo in Richtung Overacting und schlittert stets mit gezogener Handbremse doch noch vorbei. Er wird damit zwar leider wieder keinen Oscar gewinnen, weil die Thematik viel zu Academy-unfreundlich ist (dazu später mehr), aber in meinen Augen hat er Recht, wenn er seine Rolle als Jordan Belfort als die bislang beste seines Lebens bezeichnet.

Der Rest des Casts, der solch Kaliber wie Matthew McConaughey, Kyle Chandler oder Jean Dujardin trägt, wird von einer weiteren Performance angeführt, die endgültig die Brücke in Richtung Apatow schlägt: Wer hätte je gedacht, dass sich ein Geselle wie Jonah Hill mit dreißig Jahren bereits zweifach Oscar-nominierter Schauspieler nennen darf? Er übernimmt in The Wolf of Wall Street die Comicrevision eines Joe Pesci aus Goodfellas, der zwar nicht grundlos irgendwelche Leute verprügelt oder gar tötet, jedoch mühelos auf andere Weise die Grenzen der normalsterblichen Moralvorstellungen sprengt. Sein Charakter Donnie Azoff freundet sich früh im Film mit Jordan Belfort an und gleichwohl er bei weitem nicht die gleiche Cleverness besitzt, so feiert er dank seiner Loyalität ähnliche Erfolge. Er etabliert sich als unersetzlicher Sidekick, dessen Eskapaden weniger episch und dafür umso peinlicher sind. So fängt er instinktiv sowie im Drogenrausch beim ersten Anblick von Belforts späterer Frau an zu masturbieren – wohlgemerkt am helllichten Tag und mitten auf einer gut besuchten Party. Ja, man sieht den Penis. Nein, es ist nicht der kleine Jonah. Trotzdem ein klares Zeichen dafür, wie sich die Filmlandschaft verändert hat, wenn nun auch ein Mann wie Scorsese erigierte Genitialien zeigt.

Die Kehrseite: Nach einer Vorführung exklusiv für Academy-Mitglieder kam es angeblich zu einem Eklat. Ein nicht weiter benannter Autor habe Scorsese wüst beschimpft, zudem wurde der Vorwurf der Pornographie laut. So weit würde ich im Leben nicht gehen, aber in der Tat ist The Wolf of Wall Street nicht ungefährlich. Versteht mich nicht falsch: Ich liebe den Film und hatte Tränen vor Lachen in den Augen. Er gehört meines Erachtens in die Top 5, vielleicht sogar Top 3 der besten Scorsese-Werke – eine Auszeichnung, die sich erst mit der Zeit festigen wird. Aber im gleichen Zuge musste ich mich krampfhaft daran erinnern, welch Mensch Belfort hinter dieser grotesken Fassade steckt. In Wahrheit ist er nichts mehr als ein gemeiner Verbrecher, der stets zu seinem eigenen Wohle handelt und sowohl Reiche wie Arme um ihr Geld betrügt.

Wer das nicht kapiert, der läuft Gefahr, Belfort nach diesem Film als cooles Vorbild zu betrachten, der einfach die Sau raus lässt und dabei “zurecht“ über Leichen geht. Daran ändert auch sein unrühmliches Ende nichts, das Scorsese zwar nicht verschweigt, jedoch als Gegenpol für die 160 Minuten lange Party zuvor nicht ausreicht. Die Bilder in meinem Kopf werden jedenfalls von den wahnwitzigen Orgien und den slapstickartigen Momenten dominiert.

Umso mehr möchte ich wissen, wie Martin Scorsese wirklich tickt. Mir ist kein anderer Regisseur bekannt, der mit über 70 über derart viele “Tabus“ springt, sofern er sie nicht schon mit einem seiner vorgehenden Werk passiert hatte. The Wolf of Wall Street ist der Beweis, dass Scorsese immer noch Klassiker im Kaliber eines Taxi Driver, Goodfellas oder The Departed drauf hat und gleichzeitig keine Scheu vor Neuland besitzt. Und nach The Wolf of Wall Street sowie dem leider in Vergessenheit geratenen King of Comedy würde ich dafür sterben, einen weiteren primär humorvollen Film von diesem kleinen, brillanten Mann zu sehen.

Oscar nominiert für: Bester Film, Beste Regie (Martin Scorsese), Bester Hauptdarsteller (Leonardo DiCaprio), Bester Nebendarsteller (Jonah Hill), Bestes Drehbuch (adaptiert)